Der kuriose Fall des Spring Heeled Jack: Roman (German Edition)
Schornsteinrand saß, ein Bein zu jeder Seite über die Kante baumelnd. Der Wind zerrte an ihm, aber er hatte den äußeren Fuß in einer Sprosse verkantet und fühlte sich, die Knie fest gegen das Mauerwerk gedrückt, einigermaßen sicher.
Er sah nach unten in den Kamin hinein und bemerkte, dass eine weitere Reihe metallener Sprossen in die Dunkelheit des Kaminschachtes hinabführte.
Burton zog seine Schultertasche nach vorne, öffnete sie, holte ein gebundenes Notizbuch heraus und begann zu lesen.
Zehn Minuten saß er da, eine dunkle Silhouette vor Wolkenfetzen und blauen Himmelsflecken, in unsicherem Sitz mehr als hundert Meter über dem Erdboden, das Buch in der Hand, die Stirn in konzentrierte Falten gelegt, den markanten Kiefer angespannt, mit wild flatternder Kleidung.
Schließlich drang ein verstohlenes Rascheln und Kratzen aus dem Kamin.
Burton lauschte, bewegte sich aber nicht.
Rußpartikel rieselten in die Tiefe.
Ein Stiefel scharrte über Metall.
Ein Augenblick der Stille.
Dann ertönte eine leise, zischende Stimme: »Was liest du da?«
Ohne den Blick vom Notizbuch zu heben antwortete Burton: »Das ist meine eigene Übersetzung des Bahāristān , einer Imitation des Golestan von Saadi, dem berühmten persischen Dichter. Ein Werk verfasst in Vers und Prosa, es handelt von Ethik und Bildung, ist aber auch reich an moralischen Anekdoten, Aphorismen und heiteren Erzählungen.«
»Und der ursprüngliche Autor?«, zischte die Stimme.
»Nūr-ad-Dīn ’Abd-ar-Rahmān Ibn-Ahmad, Licht der Religion, Diener des Gnadenreichen. Geboren wurde er, so glaubt man, 1414, in einer kleinen Siedlung namens Dschām, nahe Herat, der Hauptstadt der Provinz Chorasan. Als Takhallus, oder Dichternamen, hat er den Namen Dschami angenommen. Man betrachtet ihn als den letzten der großen Persischen Schriftsteller.«
»Ich will es haben«, flüsterte die Stimme aus der Dunkelheit.
»Es gehört dir«, erwiderte der Agent des Königs. »Und ich habe noch mehr Bücher dabei.« Er klopfte auf seine Schultertasche.
»Welche?«
»Meine eigenen Arbeiten: Goa und die Blauen Berge, Sindh oder das Tal des Unglücks, Persönlicher Bericht über eine Wallfahrt nach Medina und Mekka .«
»Du bist Schriftsteller?«
»Unter anderem, ja.«
»Inder?«
»Nein, das ist eine Verkleidung, die ich angenommen habe, um mich ungestört bewegen zu können.«
»Limehouse ist gefährlich.«
»Ja.«
Eine Pause, dann setzte die zischende Stimme wieder ein: »Was erbittest du als Gegenleistung für die Bücher?«
»Ich bitte um die Erlaubnis, zu helfen.«
»Zu helfen? Bei was zu helfen?«
»Vor ein paar Tagen habe ich gesehen, wie wolfsähnliche Kreaturen in Wapping einen Jungen von der Straße entführt haben. Ich weiß, dass er nicht der Erste ist, der mitgenommen wurde, und ich weiß, dass alle vermissten Jungen Kaminfeger sind.«
Burton schloss das Notizbuch, steckte es in die Tasche, nahm sie dann von der Schulter und ließ sie am Riemen in die Dunkelheit hinunter.
Eine kleine fleckige Hand, so blass, dass sie fast blau war, griff aus dem Schatten des Schachtes herauf und nahm sie entgegen. Von unten erklang ein zufriedenes Seufzen.
Burton sagte: »Die Bücher gehören dir, ob du mir nun Informationen gibst oder nicht.«
»Danke«, kam als Antwort. »Es stimmt, die Kaminkehrervereinigung wird angegriffen, und wir wissen nicht, warum.«
»Wie viele Jungen wurden entführt?«
»Achtundzwanzig.«
Burton stieß einen Pfiff aus. »So viele!«
»Bis auf neun kamen alle zurück. Diese neun fehlen noch immer. Zehn, wenn man den letzten dazuzählt, Aubrey Baxter, den Jungen, dessen Entführung du mitangesehen hast.«
»Fehlen die, die als Letztes mitgenommen wurden?«
»Nein, damit hat es nichts zu tun. Einige kommen zurück, einige nicht.«
»Und was ist mit denen, die wieder da sind? Was haben sie erzählt?«
»Sie erinnern sich an nichts.«
»Wirklich? An gar nichts?«
»Sie erinnern sich nicht einmal an die Wölfe. Eines gibt es aber doch.«
»Was?«, fragte Burton.
»Alle Jungen, die entführt wurden, trugen, als sie wiederkamen, ein Mal auf der Stirn. Zwischen den Augen, etwa anderthalb Fingerbreit über der Nasenwurzel.«
»Ein Mal?«
»Ein kleiner blauer Fleck um einen Nadelstich.«
»Wie von einer Spritze?«
»Ich habe nie ein Mal gesehen, das von einer Spritze stammt, aber ich denke ja.«
»Kannst du ein Treffen mit einem dieser Jungen für mich arrangieren?«
»Bist du von der
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