Der kurze Sommer der Anarchie
Morin
Mir hat er gefallen. Das kann ich Ihnen sagen, das war ein Mann, sowas gibts heute nicht mehr auf der Welt. Der hat keine Ungerechtigkeit vertragen, niemals. Stolz war er nicht, immer hat er ganz einfach gelebt, aber stark, stark wie der Teufel, das können Sie mir glauben.
Josefa Ibanez
Ascaso traf ich in der Druckerei der Solidaridad Obrera.
Dort holten wir damals, 1934, immer unsere Propaganda-Broschüren ab, kleine Heftchen in deutscher Sprache, die wir illegal nach Deutschland schickten. Sie waren aufgemacht wie die Reklame-Drucksachen, die man in Pralinenschachteln findet. Ich war die Sonne von Barcelona nicht gewöhnt und trug deshalb immer einen Hut. Für die Anarchisten war ein Damenhut der Inbegriff des Bürgerlichen, und schon allein deshalb betrachtete mich Ascaso mit einigem Mißtrauen. Ich gab ihm die Hand. Er drehte sie um und nickte. Ich hatte keine Schwielen.
»Was?« sagte ich, »Sie sind Ascaso?« Er sah so klein und unbedeutend aus. Das hat ihn geärgert. Ich hätte ihn nicht in diesem Ton fragen sollen. Über einen Spanier darf man nicht lachen. Am allerwenigsten, wenn man eine Frau ist. Ich war einundzwanzig, aber ich sah aus wie siebzehn. Ascaso schien mir ziemlich eitel. Außerdem gehörte er zu denjenigen Anarchisten, die von komischen Ausländern wie uns im Grunde nichts wissen wollten. Die andern haben mich bald akzeptiert. Auch meinen Hut haben sie mir verziehen. Die Männer von der CNT waren Proletarier, aber sie traten mit großer Würde und Selbstsicherheit auf. Ein Freund von mir, Eisenbahnarbeiter, wirkte in seinem ganzen Habitus wie ein Aristokrat; er war nicht der einzige.
Durruti hatte davon nichts. Er war überwältigend anspruchslos, und doch sahen alle auf ihn, wenn es darauf ankam. Ich traf ihn eines Nachmittags in einem Kino, wo seine Frau als Kassiererin und Platzanweiserin arbeitete. Emilienne redete jedermann unter den Tisch; nur wenn Durruti kam, war sie still. Ich hatte einige Einkäufe auf den Ramblas zu besorgen, und er begleitete mich. »Ich fürchte mich vor Bomben und Schießereien«, sagte ich. Damals kam es in Barcelona fast jede Woche zu einem Streik, zu einem Überfall oder einer Polizeiaktion. Auf den Ramblas stand hinter jedem Baum ein Bereitschaftspolizist mit aufgepflanztem Bajonett; oft sah man sogar reguläre Truppen. Die Mauren mit ihren Krummsäbeln sahen besonders furchterregend aus. Aber das Ganze hatte auch etwas Operettenhaftes. Die Damen spazierten vor den Geschäften auf und ab. Dann hörte man plötzlich einen Pfiff. Von den Dachterrassen wurden Handgranaten geworfen, die Rolläden krachten vor den Schaufenstern herunter, die Damen schwenkten kleine weiße Tücher und warfen sich in den Läden oder auf dem Gehsteig zu Boden. Nach einer Weile wurde es wieder still, die Trillerpfeifen gaben ein Entwarnungssignal. Man stand auf und klopfte sich den Staub von den Kleidern, als wäre nichts geschehen. Durruti ging mit mir an den Polizisten vorbei, ohne eine Miene zu verziehen. »Ich habe genausoviel Angst wie du«, sagte er. »Angst und Tapferkeit, das liegt so eng beieinander. Ich weiß oft nicht, wo das eine aufhört und das andere anfängt.« Die Kinder auf der Straße kannten ihn. Zu mir war er immer sehr freundlich. Er nahm mich sogar ernst. Die Anarchisten sind nie leichtfertig mit den Frauen umgegangen. Sie waren keine Schürzenjäger, im Gegenteil. Manchmal kamen sie mir wie Calvinisten vor. Sie dachten immer an die Revolution. Durruti wußte nicht, was Eitelkeit ist. Er nahm jeden ernst, den er traf. Die Leute von Barcelona haben sich in ihm wiedererkannt. Deshalb haben sie ihn auch begraben wie einen König.
Madeleine Lehning
Der Wahlboykott
Vor den Parlamentswahlen im November 1933 führte die CNT eine beispiellose Kampagne: sie erklärte mit einem Nachdruck und einer Schärfe wie nie zuvor den Wahlstreik. Die Zeitungen und die Flugblätter der Anarchisten brachten die Aufforderung zum Wahlboykott bis in das letzte Dorf. Die Parole: »Wir verweigern unsere Stimme« fand bei den spanischen Bauern und Arbeitern großen Anklang; sie hatten von den »linken« Regierungsparteien, von der Politik der Linksliberalen und der Sozialdemokraten und von der andauernden Repression schon lange genug. Die Kampagne gipfelte am 5. November in einer Massenkundgebung in der Stierkampfarena von Barcelona, an der 75 000 bis 100 000 Arbeiter teilnahmen. Die beliebtesten Redner der CNT sprachen über das Thema: »Angesichts der Urnen: Die soziale
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