Der kurze Sommer der Anarchie
menschlich vor. Eine letzte Geschichte, diesmal aus der Etappe. Zwei Anarchisten erzählten mir einmal, wie sie zwei Priester gefangengenommen hatten. Der eine wurde sofort, vor den Augen des andern, mit einem Pistolenschuß getötet; dem andern wurde gesagt, er könne gehen, wohin er wolle. Als er zwanzig Schritt weit gegangen war, schossen sie ihn nieder. Der Erzähler wunderte sich sehr, daß ich nicht über seine Geschichte lachen konnte. Eine Atmosphäre, in der so etwas alltäglich ist, löscht das Ziel des Kampfes, der da geführt wird, aus. Denn dieses Ziel läßt sich nicht ausdrücken ohne den Rekurs auf das Gesamtwohl, das Wohl der Menschen; ein Menschenleben aber gilt in Spanien nichts.
In einem Land, in dem die Armen in ihrer großen Mehrheit Bauern sind, muß die Besserstellung der Bauern für jede Gruppierung der extremen Linken ein wesentliches Ziel sein; und der Bürgerkrieg war anfangs vielleicht in der Hauptsache ein Krieg für (und gegen) die Aufteilung des Landes an die Bauern. Was geschah? Diese blutarmen, großartigen Bauern von Aragon, die unter allen Demütigungen ihren Stolz bewahrt hatten, waren für die Milizsoldaten aus der Stadt nicht einmal ein Gegenstand der Neugier. Ohne daß es zu Übergriffen, Unverschämtheiten, Beleidigungen gekommen wäre - ich jedenfalls habe davon nichts bemerkt, und ich weiß, daß bei den Kolonnen der Anarchisten auf Raub und Vergewaltigung die Todesstrafe stand —, trennte ein Abgrund die Soldaten von der unbewaffneten Bevölkerung, ein Abgrund, der ebenso tief war wie der zwischen Armen und Reichen. Das war deutlich zu spüren an der stets etwas demütigen, unterwürfigen, furcht samen Haltung der einen und an der Ungeniertheit, der Überlegenheit, der Herablassung der anderen.
Simone Weil
Im September 1936 war die Aragon-Front im Stellungskrieg erstarrt. Dafür waren aber die anarchistischen Kolonnen insofern gut gerüstet, als sie von der Zentralregierung in Madrid unabhängig waren. Für ihren Nachschub sorgten sie selbst. Sie schalteten allenfalls die Gewerkschaften von Katalonien ein, wenn es Schwierigkeiten gab. Auch finanziell war unsere Kolonne unabhängig. Sie regelte ihre Lebensmittelversorgung auf die folgende Weise. Nachdem die Kornernte eingebracht war, kaufte unser Troß bei den Dorfkomitees zu den üblichen Preisen Weizen ein, und wir fuhren die Säcke mit unseren eignen Lastwagen an die Levanteküste, in die Provinz Valencia. Dort aber lag der Weizenpreis wesentlich höher. Die Lastwagen konnten mit Obst und Gemüse zurückkehren und außerdem Geld genug für neue Weizenkäufe mitbringen. Auf diese Weise bekam die Kolonne alles, was zum Grabenkrieg unentbehrlich ist: Lebensmittel, Holz, Kleidung und Tabak. An der Front war es sehr ruhig, ruhiger als im Hinterland, wo die Bombenangriffe zunahmen. Viele Milizsoldaten fingen an, den Krieg als Zeitvertreib zu betrachten. Oft genug entfernten sie sich aus ihren Stellungen und gingen für ein paar Tage in die Etappe. Das galt freilich für die Kolonne Durruti am wenigsten, weil unser Chef es immer verstand, die Situation in der Hand zu behalten.
Auf dem Weg in die Etappe kamen die Soldaten immer durch die Stadt Lerida. Dort fingen sie an, in den Läden und Warenlagern alles zu »requirieren«, was sie haben wollten. Das war letzten Endes nichts anderes als eine halblegale Form der Plünderung. Die Behörden sahen ohnmächtig zu. Allmählich nahmen die Beschlagnahmungen einen derartigen Umfang an, daß sich in Lerida niemand mehr sicher fühlen durfte. Das Vorgehen der Milizen war ansteckend; bald »requirierte« jeder, der eine Waffe zur Hand hatte. Es bildeten sich ganze Gruppen von »incontrolados«, die auf eigene Rechnung handelten. In Lerida waren alle möglichen Organisationen vertreten: die Parteien, die CNT, die UGT, die POUM, die Straßenkontrolle, und alle unterschrieben Gutscheine, die tatsächlich nichts anderes waren als Freibriefe für die Ausplünderung der Stadt. All das wurde mit dem Namen der Kolonne Durruti gedeckt, obwohl sie mit diesem Vorgehen überhaupt nichts zu tun hatte. Durruti hat niemals solche »Requisitionen« unterschrieben oder angeordnet.
Schließlich wurde ihm das Ganze zu dumm. Er rief mich zu sich und sagte: »Diese Räubereien bringen die Kolonne in Verruf. Das muß aufhören. Du fährst als Delegierter der Kolonne nach Lerida und schaffst Ordnung. Ich gebe dir zwei Leute von der Quartiermeisterei mit, die sich auskennen. Du rufst mich jeden Abend an und
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