Der Kuss der Göttin (German Edition)
seit dem Tod meiner Eltern.
Es ist zu viel. Zu schnell. Mit beiden.
Und wo bleibe ich dabei?
Ich starre in den Sturm hinaus, der jetzt Büsche und Bäume peitscht; es ist ein passendes Spiegelbild meiner eigenen Gefühle.
Die Fliegengittertür hinter mir geht auf und meine Wirbelsäule streckt sich mit einem Ruck. »Tavia? Bist du das?« Reese erspäht mich auf der Treppe. »Geht es dir gut?« Ihre Stirn ist ganz leicht gerunzelt; genug, um besorgt auszusehen, aber nicht vorgetäuscht. Man könnte meinen, sie hätte nicht erst ein paar Stunden zuvor hinter meinem Rücken bei meiner Therapeutin herumspioniert.
Mein Mund ist trocken und klebrig und ich kann nichts sagen. Reese lässt sich auf die Stufe neben mich fallen. »Mir geht’s gut.« Ich würge die Worte heraus, ein bisschen überrascht, als meine Ohren meine Stimme hören und sie okay klingt.
Aber Reese ist nicht ganz überzeugt; ich schätze, ich bin wohl nicht so eine gute Lügnerin wie sie.
»Harter Tag«, fahre ich fort und lächle schwach.
Reese atmet lange ein, wie durch einen Strohhalm, dann zögert sie. »Wo warst du?«, stößt sie hervor, als hätte sie sich überwinden müssen, die Frage zu stellen. »Du warst den ganzen Tag weg.«
Sie fragt selten. Elizabeth hat ihr gesagt, sie solle nicht fragen. Keine Fragen, wenn ich ausgehe, kein Nachbohren, wo ich war. Ich bin schließlich achtzehn. Früher dachte ich, Elizabeth wolle mich schützen, aber jetzt sehe ich es als das, was es ist – sie will mich im falschen Gefühl der Sicherheit wiegen, damit ich nicht auf der Hut bin. Keine Freiheit, lediglich die Illusion davon.
Jetzt bricht Reese die Regeln. Sie fragt.
Ich versuche zu entscheiden, was das bedeutet, doch es bereitet mir nur Kopfschmerzen. »Mit Benson unterwegs«, murmle ich, zu müde, um mir eine Lüge auszudenken.
»Hattet … hattet ihr Streit oder so? Du siehst ein bisschen schlecht aus. Blass«, korrigiert sie sich.
»Ich habe das Mittagessen ausgelassen.« Leider auch wahr. Vielleicht würde ich besser damit zurechtkommen, wenn mein Magen nicht wütend auf mich wäre. Aber er knurrt und rumort trotz des Haufens Mini-Schokoriegel, die ich mit Benson gegessen habe.
Oder vielleicht genau deswegen.
»Tave«, schilt mich Reese und steht auf. »Du kannst keine Mahlzeiten ausfallen lassen – dein Körper braucht die Nährstoffe. Du musst doch …« Sie unterbricht sich.
Aber ich höre die Worte praktisch, als hätte sie sie geschrien.
Gesund werden .
Mehr als alle anderen hat Reese es immer vermieden, über meine Verletzungen zu sprechen. Vor heute Abend fand ich das gut. Ich fühlte mich weniger gehemmt, als sähe sie mich , nicht eine wandelnde Ansammlung von Nähten und Narben.
Und jetzt? Jetzt weiß ich nicht mehr, was es bedeutet.
»Noch wachsen«, endet sie lahm.
Wachsen, klar . Ich habe schon vor drei Jahren aufgehört zu wachsen. Aber ich nehme den Wirbel, den sie veranstaltet, wie betäubt hin und stehe auf, um ihr in die Küche zu folgen. Sie plappert von der Arbeit, während sie mir eine Schale Gourmetsuppe aus Kürbis und frei laufendem Hühnchen aufwärmt. Ich nehme an, das ist ihre Version von Trostessen. Ich löffle die reichhaltige goldene Suppe in meinen Mund, aber sie schmeckt auf meiner Zunge wie Haferschleim. Ich bringe es nicht über mich, das gebutterte Sauerteigbrot auf einem kleinen Glasteller neben meiner Suppenschale anzurühren, obwohl es super aussieht. Mein Magen fühlt sich hohl an, und ich weiß nicht recht, wie ich es schaffe, gleichzeitig so einen Hunger und totale Appetitlosigkeit zu haben.
Ich blicke auf und Reese mustert mich eingehend. Ich höre irgendeine Sportübertragung auf dem Plasmafernseher im Nebenraum und wünsche mir, Jay würde hereinkommen. Diese eigenartige Schauspielvorstellung mit Reese unterbrechen. Wir tanzen beide unsere Choreografie der Täuschung, und keine von uns will, dass die andere es herausfindet. Also tanzen wir. Wir lachen. Wir lächeln.
Nicht dass das mit Jay echter gewesen wäre, fällt mir da wieder ein, und die Suppe, die ich gerade gegessen habe, wird in meinem Magen sauer.
Weiß er es?
Seine Worte von gestern hallen in meinem Kopf wider: Ich erzähle Reese alles . Aber revanchiert sich Reese?
Ich werde mich vor ihnen beiden verstecken müssen . Der Gedanke ist schrecklich.
»Tavia«, sagt Reese leise, »erinnerst du dich an die Geschäftsreise, von der ich dir erzählt habe?«
»Ja, klar«, sage ich und entwickle ein plötzliches Interesse an
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