Der Kuss der Göttin (German Edition)
meiner Suppenschale.
»Ich wollte eigentlich morgen fahren«, sagt sie zögernd, und ich umklammere den Löffel so fest, dass meine Fingerspitzen weiß werden. »Aber wenn ich bleiben soll …«
»Nein«, platze ich zu laut heraus, als die Panik in mir hochschießt.
»Ich kann bleiben«, beeilt sie sich, mir zu versichern, aber ich höre eine Verzweiflung in ihrer Stimme und weiß, dass es das Letzte ist, was sie tun will.
»Nein«, antworte ich ruhiger. »Ich werde nicht vergessen zu essen, ich verspreche es. Ich habe nur … ich habe nur in der Bücherei gelesen und die Zeit vergessen, das ist alles.« Und es stimmt auch irgendwie; ich habe absolut kein Gefühl mehr für die Zeit.
Und den Raum.
Und den Verstand.
Sie will etwas sagen, wie um sich zu korrigieren und mir zu gestehen, was ihre wirkliche Sorge ist. Aber sie überlegt es sich anders und nickt nur. »Es ist eine wichtige Reise«, sagt sie. »Aber sie dauert höchstens ein paar Tage.«
»Wohin fährst du?«, frage ich, und meine Kehle gefriert, während ich auf die Antwort warte.
Sie zögert, dann sagt sie: »Phoenix. Ein Kunde dort braucht mich persönlich.«
Ich muss zugeben, dass ich beinahe schockiert bin, dass sie mir die Wahrheit sagt. Ungefähr jedenfalls.
Was ist wirklich in Phoenix? Etwas, das mich betrifft, sonst hätte sie es in dem Telefongespräch mit Elizabeth nicht erwähnt.
Ich kenne niemanden in Phoenix. Aber …
»Ich komme schon zurecht«, sage ich mit einem gezwungenen Lächeln. »Außerdem ist Jay ja da.«
Reese’ Blick geht zu dem Halbkreis von einem Kopf, den sie und ich gerade noch über der Sofalehne sehen können, und wird weich. Ich weiß nicht genau, was für Rollen sie spielen, aber ich kann in ihren Augen lesen, dass sie Jay wirklich liebt. Irgendwie fühle ich mich dadurch besser. Zwei Leute, die einander lieben, können mir nichts antun wollen. Eigentlich nicht.
Ich rede mir ein, das sei ein gutes Argument, obwohl ich weiß, dass es vollkommen verrückt ist.
Nicht verrückt.
Nur irrational.
»Fahr bitte«, sage ich, und Reese zuckt zusammen und richtet ihre Aufmerksamkeit wieder auf mich. Sie sieht nicht ganz überzeugt aus und ich ziehe meinen letzten Trumpf aus dem Ärmel. »Ich will dir nicht zur Last fallen.« Ich senke die Augenlider, während ich spreche. Das war einmal die Wahrheit – und es war mir genauso unangenehm, wie ich es jetzt vortäusche. Ich habe mich immer als Last für sie gefühlt.
Das bin ich aber nicht. Ich bin eine Art Projekt, was noch schlimmer ist. Aber heute Abend spiele ich es zu meinem Vorteil aus.
Reese nickt, und ihre warmen Finger legen sich auf meine, wie sie es in den letzten acht Monaten oft getan haben.
All diese Male im Krankenhaus.
Mir wird übel.
»Okay, ich fahre.« Sie zögert, und ich weiß, da ist noch mehr.
Ich knülle meine Leinenserviette zusammen und werfe sie auf den Tisch neben mich. »Was?«
»Dr. Stanley will dich morgen sehen.«
Mein Mund wird trocken, und ich platze heraus: »Warum?«, bevor ich mich bremsen kann.
»Sie hat heute Nachmittag angerufen und mir gesagt, sie will weiter über das sprechen, was du ihr heute erzählt hast.« Ich merke, dass Reese versucht, ihre Worte sorgfältig zu wählen. Damit ich nicht merke, dass sie alles weiß, worüber ich heute mit Elizabeth gesprochen habe.
Ich schaue in meine Suppenschale und versuche, meine Wut in den Griff zu bekommen. Ich kenne die Wahrheit; sie glauben nicht, dass ich mich benehme – oder sogar überlebe –, während Reese weg ist. Sie wollen mich babysitten.
Vielleicht brauche ich es.
»Wann du willst. Sie nimmt sich Zeit für dich.«
»Aber …«
»Es muss auch nicht lang sein – sie will nur, dass du dich meldest.«
Ich sage nichts.
Und nichts.
Bis Reese schließlich fragen muss: »Gehst du hin, Tave?«
Ich beruhige mich. Es liegt etwas in ihrer Frage. Ein Hauch Gefühl; ich kenne es. Es schreit mir zu, dass sie sich sorgt. Ehrlich sorgt.
Aber ich wage nicht, es zu glauben.
»Von mir aus«, murmle ich. »Ich habe nichts Besseres zu tun.« Wir können auch genauso gut beide lügen.
Ich täusche Kopfschmerzen vor und schlucke brav die zwei weißen Tabletten, die mir Reese in die Handfläche legt. Sie sagt, es sei Aspirin, und ich sehe die kleinen Worte in die Tabletten geprägt, aber ein Teil meines Verstandes fragt sich, was es sonst sein könnte.
Paranoia.
Ich kämpfe dagegen an. Damit fange ich gar nicht erst an.
Doch als ich mich nach oben in mein Zimmer
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