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Der Kuß der Schlange

Der Kuß der Schlange

Titel: Der Kuß der Schlange Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruth Rendell
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»Bei dem Essen ist es kein so großes Kompliment. – Für die Dame nur einen Kaffee, bitte.« Wurden ihre Reize durch Antonios unverhohlene Bewunderung noch verstärkt, fragte er sich. Ihr entging nicht das geringste von alledem, das sah er wohl, und in dieser aus Erfahrung gewonnenen Sicherheit, mit der sie sich ihrer Wirkung bewußt war, lag eines der wenigen Anzeichen ihres Alters.
    Sie saß eine Weile stumm da, während er aß, und er hatte den Eindruck, daß es ein bekümmertes Schweigen war. Aber plötzlich, als er gerade fragen wollte, warum Robert Hathall sie heute vormittag so kurz abgefertigt hätte, blickte sie auf und sagte:
    »Ich bin traurig, Mr. Wexford. Bei mir läuft alles schief.«
    Er war sehr überrascht. »Möchten Sie darüber reden?« Wie seltsam, daß ihre Intimität schon so weit gediehen war, daß er sie das fragen konnte …
    »Ich weiß nicht recht«, erwiderte sie. »Nein, ich glaube nicht. Mit der Zeit wird einem das Versteckspiel zur zweiten Natur, selbst wenn man im Grunde gar keinen Sinn darin sieht.«
    »Das ist wahr. Oder kann jedenfalls wahr sein unter bestimmten Umständen.« Den Umständen, die Dora angedeutet hatte?
    Und doch, sie war drauf und dran, ihm ihr Herz auszuschütten. Vielleicht war es bloß Antonio mit dem Kaffee und seinem bewundernden Herumscharwenzeln, was sie davon abhielt. Sie hob kaum merklich die Schultern, aber anstelle des Small talks, den er nun erwartete, sagte sie etwas, das ihn baß erstaunte. Es war so verblüffend, und sie fragte es mit solcher Intensität, daß er seinen Teller wegschob und sie anstarrte.
    »Glauben Sie, es ist sehr schlimm, wenn man sich wünscht, daß jemand stirbt?«
    »Nicht, wenn das lediglich ein Wunsch bleibt«, erwiderte er verwirrt. »Die meisten von uns haben wohl schon mal einem anderen den Tod gewünscht, aber glücklicherweise trauen sich die meisten nicht, damit Ernst zu machen. Hat dieser – äh, dieser Feind mit diesem Versteckspiel zu tun?«
    Sie nickte. »Aber ich hätte nicht davon anfangen sollen. Das war blöd von mir. Eigentlich geht’s mir ja sehr gut, bloß manchmal ist es eben schlimm, dieses Hin und Her – einmal Königin zu sein, und einmal – na ja, eben Ablenkung. Aber ich krieg meine Krone schon wieder. Ich werde nie abdanken. Mein Gott, all diese Geheimniskrämerei! Und Sie sind natürlich viel zu schlau, um nicht längst zu ahnen, worauf ich hinauswill, stimmt’s?« Und als er darauf nicht einging, meinte sie: »Also wechseln wir das Thema.«
    Sie wechselten das Thema. Hinterher, als sie ihn allein gelassen hatte und er sich in Nachdenken versunken auf der High Street wiederfand, hätte er kaum sagen können, worüber sie gesprochen hatten, bloß, daß es angenehm gewesen war, viel zu angenehm, und daß es bei ihm höchst unangenehme Schuldgefühle ausgelöst hatte. Aber er würde sie ja nicht wiedersehen. Notfalls konnte er in der Polizeikantine essen. Er würde ihr aus dem Weg gehen, er würde nie wieder mit ihr allein Zusammensein, nicht einmal in einem Restaurant. Ihm war zumute, als habe er Ehebruch begangen, ihn gebeichtet und die Weisung erhalten, ›die Gelegenheit zu meiden‹. Aber er hatte nichts Unrechtes getan. Er hatte bloß geredet und zugehört.
    Und hatte ihm das, was er gehört hatte, geholfen? Vielleicht. All dies Drumherumreden, diese Anspielungen auf einen Feind, auf ein Versteckspiel, das war ein Fingerzeig gewesen. Hathall, das wußte er, würde nicht das geringste preisgeben. Und doch, obwohl er das alles wußte, setzte er sich in Bewegung und ging die High Street hinunter in Richtung Wool Lane. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, daß es sein letzter Besuch in Bury Cottage sein sollte und daß er Hathall zwar wiedersehen, daß aber mehr als ein Jahr vergehen würde, ehe sie wieder ein Wort miteinander wechselten.
    Wexford hatte das Buch über die keltischen Sprachen ganz und gar vergessen, er hatte sich sogar nicht mal die Mühe gemacht, nochmals einen Blick hineinzuwerfen, aber genau mit der Bitte um sofortige Rückgabe begrüßte ihn Hathall.
    »Ich schicke es Ihnen morgen zu«, versprach er.
    Hathall wirkte erleichtert. »Und dann ist da noch die Sache mit meinem Wagen. Ich brauche meinen Wagen.«
    »Auch den können Sie morgen wiederhaben.«
    Die mürrische alte Frau war offensichtlich in der Küche, abgeschottet hinter einer geschlossenen Tür. Sie hielt das Haus in demselben makellosen Zustand, in dem ihre tote Schwiegertochter es hinterlassen hatte, und doch war

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