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Der Kuß der Schlange

Der Kuß der Schlange

Titel: Der Kuß der Schlange Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruth Rendell
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das war verwegen, es war geradezu beispiellos. Sie blickte ihn ruhig an, lächelte dabei; und ihre Augen leuchteten.
    Aber es ging nicht. Auf welche Pfade seine erotische Phantasie ihn auch locken mochte, es ging nicht. Früher einmal, als er jung und ohne Bindung war, als gesellschaftliche Rücksichten und andere Zwänge keine Rolle spielten, ja, da wäre es was anderes gewesen. Damals hätte er solche Einladungen gedankenlos angenommen und ausgesprochen – wenn auch ohne Gespür für ihre Köstlichkeit. Ach, ein wenig jünger zu sein und zu wissen, was man jetzt wußte …!
    »Aber ich habe auch einen Tisch zum Mittagessen reserviert«, sagte er, »im Café Carousel.«
    »Und Sie wollen den nicht abbestellen und mein Gast sein?«
    »Mrs. Lake, ich bin, wie Sie schon sagten, sehr, sehr beschäftigt. Würden Sie mich für verwegen halten, wenn ich Ihnen sage, daß Sie mich von meinen beruflichen Pflichten ablenken würden?«
    Sie lachte, aber es war kein fröhliches Lachen, und das Leuchten in ihren Augen erlosch. »Das ist doch immerhin etwas – eine Ablenkung zu sein«, sagte sie ironisch. »Wenn ich Sie so höre, dann frage ich mich, ob ich überhaupt je etwas anderes gewesen bin als eine Ablenkung. Auf Wiedersehen.«
    Er ging rasch weiter und fuhr mit dem Lift in sein Büro hinauf, und er überlegte, ob er ein Narr gewesen war, ob sich ihm eine solche Chance jemals wieder bieten würde. Er maß ihren Worten keine weitere Bedeutung bei, weder grübelte er darüber nach, noch versuchte er, sie zu interpretieren, denn in einem intellektuellen Sinne konnte er nicht an sie denken. Im Geiste verfolgte ihn dieses Gesicht, so verführerisch, so hoffnungsvoll, und dann so niedergeschlagen, weil er ihre Einladung abgelehnt hatte. Er suchte das Bild zu verscheuchen und sich auf das zu konzentrieren, was vor ihm lag, auf den trockenen, technischen Untersuchungsbericht über Robert Hathalls Wagen, aber es tauchte wieder auf, dieses Gesicht, und mit ihm die verwirrende Stimme, gedämpft jetzt zu einem schmeichelnden Flüstern.
    Nicht, daß in dem Report etwas sonderlich Aufregendes gestanden hätte. Der Wagen war in einer Straße in der Nähe des Alexandra-Parks abgestellt aufgefunden worden. Ein Streifenpolizist hatte ihn entdeckt. Abgesehen von ein paar Karten und einem Kugelschreiber auf der Ablage war er leer gewesen und sowohl innen wie außen peinlich saubergewischt. Die einzigen Fingerabdrücke, die von Robert Hathall, befanden sich auf den Unterseiten der Motorhaube und der Kofferraumklappe, und die einzigen Haare, zwei von Angelas, befanden sich auf dem Fahrersitz.
    Er ließ Sergeant Martin kommen, aber auch von ihm erfuhr er nichts Ermutigendes. Es hatte sich niemand gemeldet, der mit Angela befreundet gewesen wäre, und anscheinend hatte auch niemand sie am Freitag nachmittag wegfahren oder heimkehren sehen. Burden war unterwegs, stellte – schon zum zweiten- oder drittenmal – Befragungen unter den Arbeitern der Wool Farm an, also ging Wexford allein zu einem einsamen Essen ins Café Carousel.
    Es war noch früh, nicht viel später als zwölf Uhr, und das Café war noch halb leer. Er hatte vielleicht fünf Minuten an seinem Ecktisch gesessen und Antonios Tages Spezialität, den Lammrostbraten, bestellt, als er eine leichte Berührung an der Schulter spürte, die fast ein Streicheln war. Wexford hatte in seinem Leben zu viele Schocks erlebt, um noch zusammenzufahren. Er drehte sich langsam um und sagte mit einer Kühle in der Stimme, die er nicht empfand: »Das ist ja ein unerwartetes Vergnügen.«
    Nancy Lake setzte sich ihm gegenüber. Ihre Erscheinung ließ das ganze Restaurant schäbig wirken. Neben ihrem cremefarbenen Seidenkostüm, dem kastanienbraunen Haar, den Brillanten und ihrem Lächeln nahmen sich Antonios Woolworth-Besteck und der tomatenförmige Saucenbehälter aus Plastik besonders scheußlich aus.
    »Der Berg«, sagte sie, »wollte nicht zu Mohammed kommen.«
    Er grinste. Es war sinnlos, so zu tun, als ob er sich über ihre Erscheinung nicht freute. »Oh, Sie hätten mich vor einem Jahr sehen sollen«, erwiderte er. »Da war ich ein Berg. Was möchten Sie essen? Der Lammrostbraten ist bestimmt mies, aber immer noch besser als die Pastete.«
    »Ich will gar nichts essen. Ich trinke bloß einen Kaffee. Fühlen Sie sich nicht geschmeichelt, daß ich nicht wegen des Essens komme?«
    Und ob er das tat. Aber während er den vollgehäuften Teller begutachtete, den Antonio vor ihn hinstellte, meinte er:

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