Der Kuß der Schlange
gestohlen. Ich bat Mr. Craig, die Person so ruhig wie möglich loszuwerden, und dann nahm ich Angela hier mit nach oben. Als sie sich beruhigt hatte, erklärte ich ihr, daß mich zwar ihre Privatangelegenheiten nichts angingen, daß aber solch eine Sache nicht wieder passieren dürfe.«
»Und es passierte auch nicht wieder?«
»Nein, aber Angelas Arbeit begann zu leiden. Sie gehörte zu den Menschen, die unter Belastung leicht zusammenbrechen. Sie tat mir zwar leid, aber es tat mir auch wieder nicht leid, als sie erklärte, sie müsse auf ärztlichen Rat ihre Stellung aufgeben.«
Die Bibliothekarin schwieg, als hätte sie alles gesagt, was sie zu sagen hatte, und erhob sich. Aber statt aufzustehen, sagte Wexford: »Wennschon – dennschon, Miss Marcovitch …?«
Sie verfärbte sich und lachte verlegen. »Wie scharfsinnig von Ihnen, Chief Inspector! Ja, da gibt es noch etwas. Ich dachte mir schon, daß Sie mein Zögern bemerkt haben. Ich habe nie jemandem was davon erzählt, aber – nun gut, Ihnen werd ich es erzählen.« Sie setzte sich wieder, und ihre Miene wurde ein wenig pedantisch. »In Anbetracht der Tatsache, daß die eingetragenen Leser der Bibliothek einen hohen Jahresbeitrag zahlen – fünfundzwanzig Pfund – und von Natur aus meist sorgfältig mit Büchern umgehen, erheben wir keine Gebühren, falls sie die Bücher einmal länger als die erlaubte Ausleihzeit von einem Monat behalten. Natürlich machen wir das nicht publik, und viele neu eingetragene Mitglieder sind angenehm überrascht, wenn sie Bücher zurückbringen, die sie womöglich zwei oder drei Monate behalten haben, und wir keine Extragebühr von ihnen verlangen.
Vor ungefähr dreieinhalb Jahren, kurz nachdem Angela uns verlassen hatte, half ich zufällig am Rückgabeschalter aus. Da brachte mir ein Leser drei Bücher zurück, an denen ich sah, daß sie sechs Wochen überfällig waren. Ich hätte kein Wort darüber verloren, aber das Mitglied wollte mir ein Pfund achtzig geben und versicherte mir, das sei die genaue Gebühr für überfällige Bücher, zehn Pence pro Buch wöchentlich. Als ich ihm erklärte, in dieser Bibliothek würden nie Extragebühren erhoben, erzählte er mir, er sei erst seit einem Jahr eingetragener Leser und habe erst einmal Bücher länger als einen Monat behalten. Bei dieser Gelegenheit habe ›die junge Dame‹ ihn um ein Pfund zwanzig gebeten, und er hatte nicht protestiert, denn er hielt das für angemessen.
Natürlich habe ich alle Angestellten ausgefragt, und alle schienen vollkommen unschuldig, aber die beiden Mädchen erzählten mir, daß auch andere Leser ihnen kürzlich angeboten hätten, Gebühren für überfällige Bücher zu zahlen, was sie, unter Hinweis auf unsere Gepflogenheiten, abgelehnt hätten.«
»Und Sie glauben, daß Angela Hathall dafür verantwortlich war?« fragte Wexford.
»Wer sonst könnte es gewesen sein? Aber sie war ja ohnehin weg, großer Schaden war nicht entstanden, und so unterließ ich es denn, die Sache bei einer Versammlung des Kuratoriums an die große Glocke zu hängen. Das hätte bloß Unannehmlichkeiten nach sich gezogen, womöglich zu einer Strafverfolgung geführt, wobei man die betreffenden Leser als Zeugen vernommen hätte, und so weiter. Außerdem hatte das Mädchen unter Druck gestanden, und es war ja eine sehr geringfügige Unterschlagung. Ich bezweifle, daß sie mehr als höchstens zehn Pfund zusammengekriegt hat.«
9
Eine sehr geringfügige Unterschlagung … Wexford war auf so etwas nicht gefaßt gewesen, und wahrscheinlich war das auch irrelevant. Aber die verschwommene Person der Angela Hathall nahm jetzt doch, wie eine vom Nebel verhüllte Gestalt, nach und nach deutlichere Konturen an. Eine paranoide Persönlichkeit mit einer Tendenz zur Hypochondrie; intelligent, aber ohne Ausdauer im Beruf; ohne stabiles psychisches Gleichgewicht; in Gelddingen unsolide und Nebenverdiensten durch betrügerische Mittel nicht abgeneigt. Wie war sie dann aber über eine Periode von nahezu drei Jahren für sich und ihren Mann mit fünfzehn Pfund pro Woche zurechtgekommen?
Er verließ die Bibliothek und nahm die U-Bahn zur Chancery Lane. Craig und Butler, Wirtschaftsprüfer, hatten ihre Büros im dritten Stock eines alten Hauses in der Nähe des Royal Free Hospital. Er merkte sich das Gebäude, nahm in einem Café einen Imbiß aus Salat und Orangensaft zu sich, und eine Minute vor drei wurde er in das Büro des Seniorpartners William Butler geführt. Der Raum war genauso
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