Der Kuß der Schlange
Mahagonirahmen, durch die Wexford in eine Halle trat, in der Schwarzweißfotos von Amphoren und Porträts von finster dreinblickenden Ausgräbern der Vergangenheit hingen, dann gelangte er durch eine weitere Tür in die Bibliothek selbst. Die Atmosphäre hier war äußerst still und bildungsträchtig, mit dem Geruch von alten und neuen Büchern.
Es waren nur wenig Leute da. Ein Leser war mit einem der mächtigen, ledergebundenen Kataloge beschäftigt, ein anderer unterschrieb die Zettel für die Bücher, die er ausleihen wollte. Zwei Mädchen und ein junger Mann betätigten sich leise und emsig hinter dem blanken Eichenholztresen. Eins der Mädchen trat auf Wexford zu und geleitete ihn die Treppe hinauf, vorüber an noch mehr Porträts, noch mehr Fotos, vorüber an dem grabesstillen Leseraum ins Büro der Chefbibliothekarin, Miss Marie Marcovitch.
Miss Marcovitch war eine kleine, ältere Frau, offenbar zentraleuropäisch-jüdischer Abstammung. Sie sprach ein flüssiges, akademisches Englisch mit einem leichten Akzent. Ganz anders als Linda Kipling – ein krasserer Unterschied zwischen zwei Frauen ließ sich nicht denken –, bat sie Wexford, Platz zu nehmen, und zeigte keinerlei Erstaunen, daß er gekommen war, um sie über einen Mordfall zu befragen, obwohl sie anfangs das Mädchen, das einmal für sie gearbeitet hatte, gar nicht mit der toten Frau in Verbindung gebracht hatte.
»Sie ist hier zwar schon vor ihrer Eheschließung weggegangen«, meinte Wexford, »aber wie würden Sie sie beschreiben – als schroff und unbeholfen oder als nervös und schüchtern?«
»Nun ja, sie war sehr still. Man könnte sagen … Aber nein, das arme Mädchen ist ja tot.« Nach kurzem Zaudern fuhr Miss Marcovitch hastig fort: »Ich weiß wirklich nicht, was ich Ihnen über das Mädchen erzählen soll. Sie war nichts Besonderes.«
»Ich möchte Sie bitten, mir alles zu erzählen, was Sie wissen.«
»Das ist viel verlangt, auch wenn sie nichts Besonderes war. Sie fing vor etwa fünf Jahren hier an. Es ist eigentlich keine gängige Praxis der Bibliothek, Leute ohne Universitätsabschluß zu beschäftigen, aber Angela war ausgebildete Bibliothekarin, und sie besaß ein paar Kenntnisse in Archäologie. Praktische Erfahrung darin hatte sie nicht, aber was das betrifft, die habe ich auch nicht.«
Im Dunstkreis all der Bücher fiel Wexford jenes Buch ein, das er noch immer nicht zurückgegeben hatte. »War sie an keltischen Sprachen interessiert?«
Miss Marcovitch blickte erstaunt drein. »Nicht daß ich wüßte.«
»Macht nichts. Bitte fahren Sie fort.«
»Ich weiß kaum, wie ich fortfahren soll, Chief Inspector. Angela verrichtete ihre Arbeit ganz zufriedenstellend, obwohl sie ziemlich häufig fehlte unter vagen medizinischen Begründungen. Und sie konnte mit Geld nicht umgehen…« Wieder bemerkte Wexford ein Zögern. »Ich meine, sie kam mit ihrem Gehalt nicht zurecht und beklagte sich dauernd, es sei unangemessen. Ich bekam auch mit, daß sie sich kleinere Beträge von anderen Angestellten auslieh, aber das war ja nicht meine Angelegenheit.«
»Ich glaube, sie hatte hier schon ein paar Monate gearbeitet, ehe sie Mr. Hathall kennenlernte?«
»Ich weiß wirklich nicht, wann sie Mr. Hathall kennengelernt hat. Zunächst war sie mit einem Mr. Craig befreundet, der ebenfalls zu unserem Personal gehörte, aber inzwischen gegangen ist. Überhaupt sind alle Mitglieder unseres damaligen Teams mittlerweile weg, außer mir. Ich fürchte, ich bin Mr. Hathall nie begegnet.«
»Aber Sie sind der ersten Mrs. Hathall begegnet?«
Die Bibliothekarin faltete die kleinen, runzligen Hände im Schoß. »Mir scheint, dies ist nun schon beinahe Klatsch und Tratsch«, sagte sie streng.
»So vieles meiner Arbeit ist das, Miss Marcovitch.«
»Also …« Ganz plötzlich und unvermittelt lächelte sie, strahlend und beinahe keck. »Sie meinen, wennschon – dennschon, was? Also ja, ich bin der ersten Mrs. Hathall begegnet. Ich war zufällig gerade unten in der Bibliothek, als sie hereinkam. Sie haben vielleicht bemerkt, daß das ein besonders stiller Ort ist. Keine erhobene Stimme, keine hastige Bewegung, eine Atmosphäre, wie sie sowohl den Lesern als auch dem Personal angenehm ist. Ich muß gestehen, daß ich wirklich sehr wütend war, als diese Frau in die Bibliothek gestürmt kam, hinter den Tresen stürzte, wo Angela stand, und los zeterte. Es war einfach nicht zu überhören, daß sie Angela vorwarf, sie habe ihr, wie sie es nannte, ihren Mann
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