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Der Kuß der Schlange

Der Kuß der Schlange

Titel: Der Kuß der Schlange Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruth Rendell
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längsten Nacht. Ein paar Tage noch bis zur Wintersonnenwende, wenn die Sonne ihre weiteste Entfernung von diesem Teil der Erde erreicht hätte. Oder vielmehr, dachte er, als ihm Burdens Bruchstück populärer Schulweisheit vom Tag zuvor einfiel, wo der Boden, auf dem er stand, seine weiteste Entfernung von der Sonne erreicht hatte …
    Er sah die Polizeiautos und die Mannschaftswagen in der River Lane schon, noch ehe er die Männer, die sie hergefahren hatten, erkennen konnte, oder auch nur irgendwelche Hinweise auf den Anlaß. Sie parkten dicht bei dicht die Straße entlang vor der Reihe fast verfallener Häuser, deren Eigentümer sie aufgegeben und der vorübergehenden Nutzung durch verzweifelte Obdachlose überlassen hatten. Hier und da waren, wo die Glasscheiben oder sogar die Rahmen zerbrochen und verschwunden waren, die Fensterhöhlen mit Plastikfolie verhängt. Vor anderen Fenstern hingen Bettüberwürfe, Säcke, Teppiche, zerrissenes, durchnäßtes braunes Packpapier. Aber Hausbesetzer gab es hier jetzt nicht. Der Winter und die vom Fluß aufsteigende Feuchtigkeit hatten sie vertrieben, wohl um sich bessere Quartiere zu suchen, und die alten Häuser, selbst jetzt noch unendlich viel schöner als jeder moderne Bungalow, warteten in der herben Kälte auf neue Bewohner oder Käufer. Sie waren zwar alt, aber sie waren auch beinahe unsterblich. Niemand würde sie zerstören, alles, was ihnen widerfahren konnte, war ein langsamer Verfall bis hin zur restlosen Auflösung.
    Zwischen bröckelnden Backsteinmauern führte ein Weg zu den dahinterliegenden Gärten, Gärten, aus denen von Ratten wimmelnde Abfallhalden geworden waren, die sich bis ans Flußufer hinunterzogen. Wexford ging diesen Weg entlang bis zu einer Stelle, wo die Mauer zusammengebrochen war und sich eine Lücke auf tat. Ein junger Polizeisergeant, der direkt dahinter stand und einen Spaten in der Hand hielt, vertrat ihm den Weg und sagte: »Tut mir leid, Sir, hier darf niemand rein.«
    »Kennen Sie mich denn nicht, Hutton?«
    Der Sergeant blickte genauer hin und sagte verdattert: »Ach, Sie sind Mr. Wexford, oder? Verzeihung bitte, Sir.«
    »Schon gut«, meinte Wexford und erkundigte sich, wo Chief Inspector Lovat sei.
    »Da unten, wo sie graben, Sir. Da ganz unten auf der rechten Seite.«
    »Sie graben nach der Leiche dieser Frau?«
    »Ja, Mrs. Morag Grey. Sie und ihr Mann haben im vorletzten Sommer hier eine Weile gehaust. Mr. Lovat denkt, der Mann könnte sie hier im Garten vergraben haben.«
    »Die haben hier gewohnt?« Wexford blickte zu dem durchhängenden Giebel auf, der mit einer Holzstrebe abgestützt war. Der lepröse, bröckelnde Putz war an manchen Stellen vollständig abgeplatzt und legte das Flechtwerk bloß, aus dem das Haus vor vierhundert Jahren gebaut worden war. Eine gähnende Türöffnung gab den Blick auf die Innenwände frei. Sie waren glitschig und troffen vor Nässe wie die Wände einer Höhle, in die täglich das Meer hineinspült.
    »Im Sommer ist das wohl gar nicht so schlimm«, meinte Hutton entschuldigend, »und sie waren ja auch bloß ein paar Monate hier.«
    Wucherndes, von Schmutz besudeltes Gestrüpp, unter dem leere Dosen und durchnäßte Zeitungen lagen, bildete die Grenze des Gartens. Wexford bahnte sich seinen Weg hindurch auf das dahinterliegende Brachland. Vier Leute waren beim Graben, und sie gruben tiefer als die drei Spatenstiche, welche die goldene Regel für Gärtner vorschreibt. Große Erdhaufen, durchsetzt mit Kalksplittern, waren an der Ufermauer aufgetürmt. Auf der Mauer selbst saß Lovat, den Mantelkragen hochgeschlagen, eine dünne, feuchte Zigarette an die Unterlippe geklebt, und betrachtete mit undurchdringlicher Miene den Aushub.
    »Wie kommen Sie darauf, daß sie hier ist?«
    »Irgendwo muß sie ja sein.« Lovat schien durch Wexfords Auftauchen nicht im mindesten überrascht, er breitete lediglich einen weiteren Zeitungsbogen auf der Mauer aus, damit er sich neben ihn setzen konnte. »Ekelhafter Tag«, brummte er.
    »Sie glauben, ihr Mann hat sie umgebracht?« Wexford wußte, es war sinnlos, Fragen zu stellen. Man mußte eine Behauptung aufstellen und abwarten, bis Lovat zustimmte oder widersprach. »Ich höre, Sie haben ihn wegen Ladendiebstahls am Schlafittchen. Aber Sie haben keine Leiche, bloß eine verschwundene Frau. Irgend jemand muß Sie doch dazu gebracht haben, die Sache so ernst zu nehmen? Und doch bestimmt nicht Grey selbst.«
    »Ihre Mutter«, sagte Lovat.
    »Ah, verstehe. Jeder hat

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