Der Kuss der Sirene
Schaulustigen sich langsam wieder zerstreuen. Die Show ist vorbei. Einige trampeln einfach über meine Heftmappe, zerfetzen meine Hausaufgaben und hinterlassen dabei schmutzige FuÃabdrücke. Ich schnappe mir, was von den Arbeitsblättern noch übrig ist und stopfe alles zurück in die Mappe.
Plötzlich taucht eine Hand neben mir auf, die mir meine Chemienotizen hinhält. Mein Blick wandert Arm, Schulter und Hals hinauf ⦠bis ich in Coles Gesicht sehe. Er wirkt betroffen. »Ich glaube, das gehört dir.«
Ich setze eine möglichst ausdruckslose Miene auf. Hastig stehe ich auf. Statt ihm zu danken, reiÃe ich ihm die Blätter aus der Hand und stecke sie in meinen Rucksack. Für einen Sekundenbruchteil blicke ich ihm in die Augen. Dann drehe ich mich um und laufe davon.
Ein paar Stunden später sitze ich im Englischkurs und rutsche unruhig auf dem Stuhl herum. Sienna und Cole sitzen mir viel zu nah auf der Pelle. Und alle anderen auch.
Ich wünschte, sie würden einfach vergessen, dass ich existiere. Ich wünschte, ich könnte sie ebenfalls vergessen, aber es ist unmöglich, mein ganzes bisheriges Leben auszulöschen. Ich sehne mich nach den Freunden von früher, obwohl ich weiÃ, dass sie für mich verloren sind.
Ich darf mich auf keine Freundschaften mehr einlassen. Das ist die einzige Ãberlebensmöglichkeit für mich â und für die anderen.
Aber sie wollen mich sowieso nicht zurück. Auf Stevens Beerdigung versuchte Cole mit mir zu reden, doch ich war noch nicht so weit, um mit jemandem zu sprechen, egal mit wem. Nur Sekunden später tauchte Sienna auf und warf mir an den Kopf, dass ich kein Recht habe, auf dem Friedhof zu sein. Völlig aufgelöst schlug sie auf mich ein. Cole fasste sie um die Taille und zerrte sie weg, während sie fürchterlich kreischte. Als ich sie das nächste Mal in der Schule sah, hatte sie sich wieder gefangen. Sie zeigte sich nach auÃen hin cool und abgeklärt und hielt damit jeden zum Narren. Jeden auÃer mir.
Mrs Jensen holt mich von meiner Reise auf der StraÃe der Erinnerungen zurück, indem sie mir meine zensierten Hausaufgaben aus den ersten zwei Wochen zurückgibt. Ich schaue auf die Noten: A. A. A.
Ich lächle vor mich hin, während ich die Aufsätze in das hintere Einsteckfach meiner weitestgehend wiederhergestellten Heftmappe schiebe. Wenn der Rest des Lebens doch nur so einfach wäre wie die Hausaufgaben. Mrs Jensen geht wieder nach vorn und klopft die Hände an der Jeans ab. »So, nachdem das erledigt ist, möchte ich gleich auf unsere erste groÃe Projektarbeit zu sprechen kommen.«
Ein paar Schüler stöhnen, aber ich horche auf. Auch wenn ich mich nicht gerade auf meine Mitschüler in der Schule freue, meine Kurse mag ich. Eines Tages werde ich Ãrztin oder Wissenschaftlerin sein. Ich werde ein Heilmittel gegen Krebs oder etwas in der Art finden. Ich werde der Welt zurückgeben, was ich ihr genommen habe. Ich werde mir ein College weit weg von hier suchen, das so groà ist, dass ich dort relativ anonym bleiben kann. Natürlich muss ein Gewässer in der Nähe sein, aber darüber werde ich mir Gedanken machen, wenn es so weit ist.
»Euer erstes Projekt werdet ihr in Gruppen bearbeiten.«
Ein Raunen geht durch die Klasse, denn schon beginnen die meisten, sich passende Partner zu schnappen. Der Mut verlässt mich, obwohl ich mir krampfhaft einzureden versuche, dass es dieses Mal vielleicht einen Ausweg aus meiner Situation gibt. Vielleicht kann ich mit diesem neuen Typ zusammenarbeiten, Erik Sowieso. Vielleicht hat er die Gerüchte über mich doch noch nicht gehört.
Mrs Jensen räuspert sich und es kehrt wieder Ruhe ein. »Bevor ihr noch ganz aus dem Häuschen geratet, werde ich euch in Dreiergruppen einteilen. Also, lasst mal sehen â¦Â« Mrs Jensen geht die Reihen ab. Als sie sich meiner Ecke nähert, dämmert mir die schreckliche, unausweichliche Wahrheit: Ich werde in einer Gruppe mit Sienna und Cole enden.
Nein . Das darf nicht passieren. Ich kann nicht mit Sienna reden. Ich kann nicht mit ihm reden.
Doch genau wie ich es befürchtet habe, nennt Mrs Jensen unsere drei Namen. Dann dreht sie sich einfach wieder zur Tafel um, als hätte sie nicht gerade den Lauf des Universums geändert oder den Dritten Weltkrieg entfacht. Ich halte mich an der Tischkante fest und ringe nach
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