Der Kuss des Anubis
schon als
Heranwachsender am wohlsten gefühlt, als ob die Gegenwart so vieler Schutzgegenstände ihn behütet hätte.
Udjat-Augen, Isis-Schwingen, heilige Pillendreher, alles war genau so, wie er es im Gedächtnis bewahrt hatte.
Doch von Miu oder Ipi auch hier keine Spur.
Er wollte die Kammer schon wieder verlassen, da fiel sein Blick auf einen Streifen Papyrus, der unter einem Salbgefäß hervorblitzte. Mehr aus Gewohnheit denn aus Neugierde zog Ani ihn ganz heraus.
Erkenne dein Verbrechen an , las er - und erstarrte.
Er kannte diese kühne, wie gestochen scharfe Handschrift mit ihren charakteristischen Bögen nur zu gut. Unter Dutzenden hätte Ani sie herausfinden können, und seine eigene Handschrift war dieser hier sogar recht ähnlich, was allerdings nicht weiter verwunderlich war.
Denn der Mann, der diese Worte geschrieben hatte, hatte ihm ja Lesen und Schreiben beigebracht: Nefer, sein eigener Vater.
Doch da lag noch etwas auf dem Boden, gleich neben dem Tisch, das er erst jetzt bemerkte. Ani bückte sich danach, hob es auf und roch daran.
Ihr unverwechselbarer Duft, frisch, leicht, ein wenig geheimnisvoll!
Wie passte das zusammen - der Papyrus mit diesem seltsamen Satz und eines der breiten blauen Bänder, wie Miu sie so gern im Haar trug?
Sie war also hier gewesen. War das Band eine Botschaft, eine Art Hilferuf?
Wohin hatte Ipi Miu verschleppt?
ZWÖLFTES KAPITEL
A lles um sie herum war stickig und dunkel, nur Ipis Fackel spendete trübes Licht. Wenn die Finsternis sie nicht verschlucken sollte, musste Miu sich möglichst dicht hinter ihm halten. Inzwischen verstand sie sich selber nicht mehr. Welcher Wahnsinn hatte sie dazu getrieben, sich auf dieses Abenteuer einzulassen?
Ihren überstürzten Entschluss, Ipi zu folgen, bereute sie zutiefst.
Schon auf dem Weg von der Werkstatt ins Tal der Könige war es Miu immer mulmiger zumute geworden, je näher sie den Felsengräbern gekommen waren. Noch jetzt brannten ihre Beine von den Abschürfungen, die sie sich beim Abstieg zugezogen hatte, weil sie mit ihren abgelaufenen Binsensandalen auf dem rutschigen Schotter immer wieder ausgeglitten war.
Es war nicht so sehr das Grab an sich, welches ihr solch großes Unbehagen bereitete. Es belastete sie vielmehr der Frevel, der darin bestand, die ewige Ruhe von Bestatteten zu stören. Als Tochter eines Balsamierers waren Miu der Tod und alles, was mit ihm zusammenhing, von Kindesbeinen an weder fremd noch unheimlich gewesen. Leben und Sterben gehörten zusammen, das hatte sie von Papa schon
als kleines Mädchen gelernt. Doch jetzt und hier ausgerechnet hinter Ipi in ein stockdunkles Nichts zu stolpern, war etwas ganz anderes.
»Ich geh nicht mehr weiter«, hörte Miu sich zu ihrer eigenen Überraschung plötzlich rufen. »Nicht einen einzigen Schritt! Es sei denn, du rückst endlich damit heraus, was wir hier eigentlich finden sollen!«
»Noch ein wenig Geduld, meine Schöne! Wir sind gleich am Ziel.«
»Das hast du vorhin schon behauptet.« Miu musste all ihren Mut zusammennehmen, um wirklich auf der Stelle stehen zu bleiben, weil der Abstand zwischen ihnen größer und die Dunkelheit damit tiefer geworden war. »Aber inzwischen sind wir endlos weitergelaufen. Deine Beweise - wo sind sie denn?«
»Bist du schwerhörig, Mutemwija?«, rief Ipi und ging ungerührt weiter. »Ich habe dir doch gesagt, dass wir gleich da sind!«
Er hatte die Fackel, und wenn Miu nicht in völliger Finsternis zurückbleiben wollte, blieb ihr nichts anderes übrig, als wieder zu ihm aufzuschließen.
Zu ihrer Angst gesellte sich nun aber Zorn, was sich gleich viel besser anfühlte. Denn eben noch hatte sie den Tod überall zu riechen geglaubt, hatte ihn als feinen Staub auf ihrer Haut gespürt und sogar auf den Lippen geschmeckt. Was hätte sie jetzt für den Anblick der strahlenden Sonne gegeben! Oder dafür, eine schmale Mondsichel am klaren Nachthimmel sehen zu können. Stattdessen kroch sie hinter Ipi einem ungewissen Ziel zu.
Er blieb plötzlich so abrupt stehen, dass Miu fast mit ihm zusammengeprallt wäre.
»Hier?«, sagte sie laut, um mit ihrer Stimme diese schreckliche Stille zu füllen. »Was soll hier schon sein? Ich sehe gar nichts!«
Sie waren in einer Art Vorraum angekommen und konnten sich endlich aufrichten, nachdem sie zuvor wegen der geringen Höhe des Gangs nur gebückt vorangeschlichen waren. Ipi steckte die Fackel in eine Wandhalterung, so gelassen und selbstverständlich, dass Miu eine schreckliche
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