Der Kuss des Anubis
den großen Fluss zu überqueren, was nachts gefährlich war, weil dann die Kinder Sobeks auf Jagd gingen.
Taheb räumte gerade die hinteren Tische ab und hielt mittendrin inne, als hätte sie auf einmal Anis Anwesenheit gespürt.
Langsam drehte sie sich zu ihm um.
Ihre Augen wurden groß. Sie hob den Arm, lächelte kurz, aber rührte sich nicht vom Fleck.
Nefer war schneller gewesen und stand schon neben ihm.
»Lass uns besser nach oben gehen«, flüsterte er. »Zweimal waren sie schon hier, um nach dir suchen. Sie könnten jederzeit zurückkommen!«
Ani folgte ihm, und offenbar gelang es auch Taheb, der jungen Bedienung ihre Abwesenheit plausibel zu machen, denn sie kam nur wenige Momente später ebenfalls hinzu und entzündete zwei Öllampen, bevor sie ihren Sohn näher in Augenschein nahm.
»Geht es dir gut? Was machst du nur für Sachen!« Unter Tränen umarmte sie ihn. »Keine Nacht mehr geschlafen
haben wir, mein Junge. Die Sorge um dich frisst uns noch auf!«
»Aber ihr braucht euch nicht zu sorgen!«, rief Ani, die Augen fest auf Nefer gerichtet. »Denn ich habe nichts getan, für das ich mich schämen müsste. Ich habe nur leider einen korrupten Vorgesetzten, der mir alle Schuld zuschieben möchte - Userkaf!«
»Mit dem habe ich gesprochen«, sagte Taheb. »Aber da warst du noch eingesperrt.« Ihr Blick glitt zu seinem Bein. Ani schüttelte unmerklich den Kopf.
»Im Gefängnis hätte ich meine Unschuld doch niemals beweisen können«, sagte er. »Darum bin ich ja auch geflohen. Aber ich bin nicht meinetwegen hier, sondern wegen diesen Worten hier.« Er holte den Papyrusfetzen heraus und hielt ihn Nefer hin. »Deine Schrift, Vater! Ich hab sie sofort erkannt. Verstanden allerdings hab ich nicht, was du da geschrieben hast. Was hat dieser Satz aus deiner Hand in Ramoses Werkstatt verloren?«
Nefer war auf einmal wie erstarrt. »Woher hast du das?«
»Das habe ich doch schon gesagt«, wiederholte Ani ungeduldig. »Zufällig bei Ramose gefunden. Warum hast du das geschrieben, Vater?«
»Weil ist es die Wahrheit ist.«
»Du beschuldigst Ramose eines Verbrechens?«, sagte Ani. »Was soll er denn getan haben?«
»Unser Leben hat er zerstört! Dafür muss er büßen.« Nefers dunkle Augen loderten. »Die Schmähung. Die gefährliche Flucht. Niemals mehr Schreiber sein zu dürfen. Diese miese, kleine Schenke, in der ich allmählich verrotte - all das hat kein anderer als Ramose zu verantworten!«
»Ramose, der Mann meiner Cousine?«, rief Taheb. »Wie kommst du denn ausgerechnet darauf?«
»Jemand hat es mir versichert«, sagte Nefer. »Jemand Hochstehendes. Jemand, der keinerlei Anlass hatte, mich zu belügen.«
»Vielleicht ja doch!«, widersprach Ani. »Denn du hast jahrelang den Falschen beschuldigt. Ramose hat nichts damit zu tun!«
»Du hast doch keine Ahnung!«, stieß Nefer wutentbrannt hervor. »Führst hier mit der Unbarmherzigkeit der Jugend große Reden - und weißt gar nichts …«
»Und ob ich etwas weiß!«, fiel Ani ihm ins Wort. »Nicht Ramose hat dich damals verraten, sondern Pached, Sheribins Mann.«
»Pached? Was redest du da für Unsinn? Pached war mein Freund - bis in den Tod! Und danach hab ich für seine Familie gesorgt, wie es ein guter Freund eben tut.«
»Das hast du vielleicht geglaubt! In Wahrheit war es sein schlechtes Gewissen, was ihn getrieben hat. Sheribin hat deine Großzügigkeit nur angenommen, weil sie verzweifelt war und Angst um die Zukunft ihrer Kinder hatte. Doch für diese Schwäche hat sie sich jedes Mal zutiefst geschämt.«
Ani war fest entschlossen, die ganze Wahrheit zu sagen - endlich, auch wenn sein Vater schon jetzt nach Luft rang.
»Pached hat dir jene Pläne über die Königsgräber zur Verfügung gestellt, bevor er starb«, fuhr er fort. »Weil er sein Gewissen zumindest ein wenig entlasten wollte. Den Mut allerdings, seine ganze Schuld zu bekennen, besaß er nicht.«
»Was für Pläne?«, rief Taheb dazwischen. »Und wieso
redest du auf einmal von Königsgräbern? Ich verstehe gar nichts mehr!«
Nefer machte eine Bewegung, als wollte er sich auf seinen Sohn stürzen.
»Du kommst hierher, nachdem du uns vor Sorgen halb um den Verstand gebracht hast, und wagst es, solche Ungeheuerlichkeiten zu behaupten?«, schrie er.
»Sheribin hat mir alles gestanden«, sagte Ani. »Und sie ist auch bereit, es jederzeit in deiner Gegenwart zu wiederholen. Der Verräter in der Sonnenstadt, der dich verpfiffen hat, war Pached, nicht Ramose. Womit hast
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