Der Kuss des Anubis
nur den Versuch wagen, ihre Pläne zu durchkreuzen. Bis der Erbe geboren ist, und selbst noch lange danach …«
Sie packte Mius Hände.
»Wenn du mich nicht vor der Zeit unter die Erde bringen willst, dann hältst du dich ab jetzt vom Hof fern, hast du mich verstanden? Ich habe schon einmal das Liebste in meinem Leben verloren - meine Tochter! Das Gleiche noch einmal mit meiner Enkelin zu erleben, würde ich nicht überstehen.«
Mius Herz zog sich zusammen. Früher war es ihr nicht schwergefallen, das Bild der Mutter vor sich heraufzubeschwören: die schlanke, hohe Gestalt, die grazilen Hände, die wie bei Raia stets in Bewegung waren. Die Fülle schwarzen Haars, die schmalen grünlichen Augen, von denen viele behaupteten, sie hätte sie Miu vererbt. Doch seit geraumer Zeit wollte Miu dieses Vergegenwärtigen nicht mehr richtig gelingen. Immer mehr Einzelheiten verschwammen, und ihre Angst wuchs, eines Tages womöglich gar nichts mehr erkennen zu können.
»Wie ist sie eigentlich gestorben?«, sagte Miu. »Ich muss noch sehr klein gewesen sein. Sonst könnte ich mich doch erinnern!«
»Du warst wirklich noch sehr klein«, sagte Raia rasch. »Und wir alle in einem Ausnahmezustand, krank und elend vor Kummer …«
»In der Sonnenstadt? Dann liegt sie dort auch bestattet? Können wir deshalb nie zu ihrem Grab gehen?«
Großmama hatte sich abgewandt. »Wem nützt es schon, diese schmerzlichen Geschichten erneut heraufzubeschwören?«, murmelte sie. »Meine wunderbare Sadeh wird nicht wiederkommen - das ist die traurige Gewissheit, mit der wir alle leben müssen. Nicht einen Augenblick habe ich mir eingebildet, sie ersetzen zu können. Und mir trotzdem jede nur erdenkliche Mühe gegeben, den Verlust für dich halbwegs erträglich zu machen. Das musst du doch gespürt haben, mein Mädchen!«
Sie wirkte so zerbrechlich, dass Miu sie am liebsten auf der Stelle umarmt hätte. Und dennoch gab es etwas, das sie zwang, das Gespräch fortzusetzen.
»Aber woran ist Mama gestorben?«, fragte sie. »Diese
Antwort schuldest du mir bis heute. Oder soll ich lieber Papa fragen?«
Ein Schatten glitt über Raias Gesicht.
»Ist es ein Geheimnis?«, insistierte Miu. »Ich bin alt genug, um es endlich zu erfahren!«
In Raias Augen glitzerte es auf einmal verdächtig.
»An gebrochenem Herzen«, sagte sie dann. »Vielleicht der endgültigste aller Tode.«
Ani hatte den richtigen Augenblick abpassen wollen. Doch Userkaf war einfach nicht zu greifen. Entweder es waren zu viele andere Polizisten in der Nähe, was dem jungen Medjai den Mund verschloss, da er keine Mitwisser wollte. Oder der Vorgesetzte verschanzte sich hinter dienstlichen Anordnungen und forderte ihn auf zu gehen. Jedenfalls glitt er Ani durch die Finger, als hätte man ihn in Öl eingelegt.
Ob Userkaf ihm absichtlich aus dem Weg ging?
Nach dem schätzungsweise siebten fehlgeschlagenen Versuch war Ani sich beinahe sicher, dass es so war. Dabei kam es ihm vor, als beobachte der ältere Polizist ihn eingehender als je zuvor. Jeden seiner Schritte schien er zu überwachen, für jeden seiner Einsätze ein ganz spezielles Interesse aufzubringen. Was leider nichts mehr mit der freundschaftlichen Förderung vergangener Tage zu tun hatte.
Ani hatte sich Userkaf zum Gegner gemacht.
Und das bekam er tagtäglich mehr zu spüren. Userkaf schien ständig unzufrieden mit ihm, polterte los, wenn sie auf dem Markt zwei Diebe gefangen hatten, weil ihnen
dabei garantiert all die anderen Übeltäter entschlüpft seien. Ging Ani hart gegen festgenommene Delinquenten vor, so schalt er ihn wegen eigenmächtigen Verhaltens. Verhielt Ani sich beim nächsten Mal eher abwartend, beschimpfte er ihn als zu weich.
Von den Kollegen war keine Unterstützung zu erwarten. Die Medjais waren eine raue Truppe, wo jeder zusah, wie er zurechtkam. Bis auf Imeni, der wenigstens ab und zu ein anteilnehmendes Wort fallen ließ, schienen die anderen eher erleichtert, dass Userkafs Zorn ihn und nicht sie getroffen hatte.
Ani hielt die Augen auf und schluckte alles hinunter. Sein Tag würde kommen. Allein diese Gewissheit hielt ihn aufrecht.
Deshalb war er freudig überrascht, als Userkaf ihn zu sich in die Wachstube befahl. Heute waren sie endlich mal allein; und die Tür war geschlossen. Ani atmete tief aus. Jetzt war sie da, die Gelegenheit, auf die er so lange gelauert hatte!
»Mit sofortiger Wirkung bist du zur Nachtwache eingeteilt«, sagte Userkaf, bevor er noch den Mund aufmachen konnte.
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