Der Kuss des Anubis
Wenigstens können wir zusammen Wache schieben - immerhin etwas!«
Mehr als ein zustimmendes Brummen brachte Ani jetzt nicht zustande.
»Oder machst du dir Sorgen um dein Bein?«, fuhr Imeni fort. Ein fröhliches Grinsen verschönte sein Koboldgesicht, das ihn ein wenig aussehen ließ wie den hässlichen Gott Bes, zu dem junge Frauen um Fruchtbarkeit beteten. »Brauchst du nicht, junger Freund! Ich weiß doch, du bist vielleicht anfangs ein bisschen langsam, vor allem wenn du zu lange gesessen hast, aber wenn du erst mal richtig in Fahrt gekommen bist, schlägst du uns alle um Längen!«
Seine warmen Worte verliehen Anis Gedanken Flügel.
Die Nacht war schon immer mein Freund, dachte er. Warum also sollten Imeni und ich die Diebe nicht stellen können? Dann wird Miu stolz auf mich sein. Und sich endlich wieder daran erinnern, dass Tutanchamun Pharao und Gott ist, also jemand, den man verehren soll, der aber unerreichbar bleibt.
Dieses Mal war Miu einer Auseinandersetzung nicht ausgewichen, auch wenn es alles andere als einfach war, ihre Großmutter umzustimmen.
»Du weißt, was dein Vater gesagt hat! Er wird einen Wutanfall bekommen, wenn du dich ihm erneut widersetzt«, wandte Raia ein. »Ramose möchte nicht, dass du mit Iset und ihrer Familie verkehrst. Das hat er mir wieder und wieder eingeschärft!«
»Aber weshalb? Hat Papa dir jemals auch nur einen vernünftigen Grund genannt? Mir nämlich nicht!«
Raia antwortete mit einem Achselzucken. »Wenn Ramose sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hat …«
»Ich lasse mich nicht bei lebendigem Leibe begraben«, begehrte Miu auf. »Auch nicht, wenn Papa das verlangt. Iset ist meine Freundin und sie braucht mich! Also besuche ich sie heute - und daran wird niemand mich hindern.«
»Und es ist kein Vorwand? Du willst wirklich zu ihr ins Wüstendorf und nicht wieder heimlich zum Palast?«
»Vertrau mir, Großmama! Ich habe meinen Fehler schließlich eingesehen.«
Irgendwann gab Raia nach. Sie wartete sogar ab, bis Anuket zum Einkaufen aufgebrochen war, um dem Mädchen
einen Korb mit Kuchen, Dattelwein und ein paar Granatäpfeln mitzugeben.
»Besser, Anuket weiß nicht, was du vorhast«, sagte sie. »Ihr Herz wird immer auf Ramoses Seite sein, sie kann einfach nicht anders! Also bringen wir sie lieber nicht in Verlegenheit.«
»Du tust ja geradezu, als hätte ich vor, tagelang fortzubleiben«, sagte Miu lachend; sie war sehr erleichtert, dass die Verstimmung zwischen ihnen sich so schnell wieder aufgelöst hatte. »Dabei weiß ich doch ganz genau, dass ich zurück sein muss, bevor Papa abends nach Hause kommt!«
Doch der Weg zu Iset gestaltete sich langwieriger als zunächst gedacht. Miu konnte erst die zweite Fähre nehmen, weil die erste hoffnungslos überfüllt war. Aber auch hier standen bereits ungewöhnlich viele Menschen an, ausschließlich Männer, die meisten von ihnen um eine hölzerne Tragbahre geschart, auf der ein Mann mit geschlossenen Augen lag. Sein Körper war bis zur Brust mit einem Leinentuch bedeckt.
Sie trugen ihn auf die Fähre und stellten sich erneut rund um ihn auf. Ab und zu drang dumpfes Stöhnen aus seinen Mund.
»Was hat er?«, fragte Miu, nachdem sie ihre anfängliche Scheu verloren hatte.
»Einen bösen Beinbruch. Im Lebenshaus haben sie alles Mögliche versucht, aber die Wunde ist offen und hat sich zudem entzündet. Wir haben Sachmet und Isis als göttliche Helferinnen angerufen - doch der Sunu hat uns gesagt, dass es keine Hoffnung gibt.«
»Er wird sterben?«, fragte sie erschrocken.
Der Mann nickte.
»Leider«, sagte er. »Welch ein Verlust! Wir sind Steinmetze im Wüstendorf und er ist unser Oberster. Er war für eine Weile für die Arbeiten im Amuntempel abgestellt. Dort ist auch der Unfall passiert, ein Sturz aus großer Höhe. Die Priester waren so erschüttert, dass sie uns allen zwei Tage freigegeben haben. Damit wir ihn wenigstens würdig begleiten können.«
Das wächserne Gesicht des Mannes ließ Miu nicht mehr los. Tief in Gedanken versunken, machte sie sich von der Anlegestelle aus auf den steinigen Weg nach Westen, bis die hohe Mauer in Sicht kam, die auf Befehl des Pharaos das Wüstendorf umschloss.
Zwei Polizisten befragten sie am Kontrollpunkt nach dem Zweck ihres Besuchs. Sie musste Kenamuns Namen nennen und zulassen, dass ihr Korb peinlich genau durchsucht wurde. Dann erst ließ man sie passieren.
Wie klein die Häuser hier waren! Perfekte, winzige Rechtecke, nebeneinander aufgereiht. Nichts
Weitere Kostenlose Bücher