Der Kuss des Anubis
»Zusammen mit Imeni. Der Posten befindet sich am Zugang zum Wüstendorf. Ihr tretet euren Dienst bei Einbruch der Dämmerung an und haltet die Stellung, bis es wieder hell geworden ist. Ich erwarte euren Rapport jeden zweiten Morgen - bis in die allerkleinste Einzelheit. Und bereite dich innerlich darauf vor, dass es eine ganze Weile so weitergehen wird. Es sei denn, ihr macht das unverschämte Diebespack, das so dreist die königlichen Gräber schändet, schneller dingfest.«
Es hörte sich nicht an, als würde er daran glauben.
Ani wechselte unauffällig das Standbein. Sein linkes Bein konnte Schwierigkeiten machen, wenn es zu lange belastet wurde. Etwas, das ihm peinlich war und das er am liebsten für sich behielt.
Userkaf jedoch war es leider nicht entgangen.
»Eine Art Bewährungsprobe«, sagte er, noch eine Spur harscher. »Das solltest du wissen. Wir sind uns nicht mehr ganz sicher, ob du auch wirklich zu uns Medjais passt. Wir brauchen Männer, die geistig und körperlich ganzen Einsatz bringen. Dein Erfolg wird zeigen, ob wir dich auch weiterhin zu uns zählen können. Also streng dich gefälligst an!«
Angst stieg in Ani hoch, die sich allerdings schnell in Zorn verwandelte. Er hatte sich immer angestrengt! Und seine Leistung war gewiss nicht schlechter als die seiner Kollegen, das wusste Userkaf ganz genau, selbst wenn er auf sein verletztes Bein ab und zu gewisse Rücksichten nehmen musste.
Warum nahm er sich dann heraus, ihn so zu demütigen?
Es kostete Ani Mühe, äußerlich ruhig zu bleiben, doch er war stolz, als es ihm schließlich gelang.
»Werden wir ein Boot zur Verfügung haben?«, fragte er. »Für den Fall, dass wir die Diebe über den Fluss verfolgen müssen.«
»Selbstverständlich!« Das kam so schnippisch, als ob er die dümmste aller nur denkbaren Fragen gestellt hätte. »Sonst noch etwas?«
»Wie weit ist eigentlich die Suche nach dem Mann mit dem Geierprofil gediehen?« Ani hatte Mius Bericht vom Opet-Fest wortwörtlich an seinen Vorgesetzten weitergegeben.
Und jetzt brauchte er endlich Gewissheit. »Hat man ihn schon ausfindig machen können?«
Userkaf musterte ihn kühl.
»Du spielst auf das Geplapper dieses Mädchens an? Bestell ihr bei Gelegenheit, dass sie sich künftig lieber um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern soll!«
»Immerhin hat Miu den Kerl mit der Warze identifiziert«, sagte Ani, nur mühsam beherrscht. »Was ihr alles andere als leicht gefallen sein dürfte, so entstellt, wie der Mann war.«
»Das war nur ein kleiner Krimineller, der sich zum Glück rechtzeitig selbst gerichtet hat! Deine junge Verwandte scheint jede Menge Fantasie zu besitzen. Oder ist eure Verwandtschaft womöglich gar nicht so eng?« Userkafs Tonfall triefte vor Spott.
Am liebsten hätte Ani ihn mit der Faust zum Schweigen gebracht. Was ging es Userkaf an, dass er ständig über Miu und den Pharao nachdenken musste? Sie hatte durch einen glücklichen Zufall das Leben Tutanchamuns gerettet - aber musste sie deshalb gleich für ihn entflammt sein? Natürlich war Ani das sofort aufgefallen, auch ohne Raias Einmischung. Allerdings hatte er sich nach außen hin nichts anmerken lassen.
»Aber der andere Mann läuft noch immer frei herum«, rief er, weil er trotz allem nicht aufgeben wollte. »Miu hat ihn wiedererkannt. Wenn wir ihn nicht rechtzeitig zu fassen kriegen, könnte er es wieder versuchen. Was, wenn der Pharao einen zweiten Anschlag nicht überlebt?«
»Falls es jemals einen anderen Mann gegeben hat«, sagte Userkaf spöttisch. »Was ich persönlich stark bezweifle. Wenn du schlau bist und für immer ein Medjai bleiben
willst, vergisst du die ganze Geschichte am besten schnell. Du hast nichts gesehen und nichts gehört, kapiert? Du weißt nichts - gar nichts!«
Das war nicht mehr der Userkaf, den er früher gekannt hatte, denn der hätte ganz anders reagiert! Ani starrte ihn voller Empörung an. Für einen Augenblick schien Userkafs Sicherheit zu wanken, dann aber sprach er scheinbar ungerührt weiter.
»Die Schatten werden länger. Ein guter Polizist würde sich jetzt schlafen legen, um ausgeruht zum Nachtdienst zu erscheinen. Abtreten!«
Wie betäubt kehrte Ani zu den anderen zurück. Vier Medjais waren in eine Würfelpartie vertieft, während zwei weitere am Senetbrett saßen, um die Zeit bis zum nächsten Einsatz totzuschlagen.
»Alles in Ordnung?«, hörte er Imeni murmeln. »Komm schon, Junge, nimm es nicht zu schwer! Userkaf tut nur so, als wäre er aus Stein.
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