Der Kuss des Anubis
begleiten!«, sagte Miu mit schlechtem Gewissen.
»Meinst du vielleicht, ich wüsste nicht, warum du mich nie im Wüstendorf besuchen kommst?«, entgegnete Iset und lächelte traurig. »Ramose, dein Vater, verachtet unsere
Familie. Er hat dir befohlen, dich von uns fernzuhalten, so ist es doch, oder? Und seinen Vater sollte man besser nicht wütend machen.«
Ani keuchte, als er endlich den steilen Grat erklommen hatte. Iset hatte mit ihrer Warnung vor dem beschwerlichen Weg ins Tal der Könige nicht übertrieben. Und der Abstieg, der sich erfahrungsgemäß immer tückischer und schwieriger gestaltete als der Aufstieg, stand ihm ja erst noch bevor. Er ärgerte sich über seine alten, abgelaufenen Sandalen, in die ständig lose Steinchen rutschten, was seinen Gang noch unsicherer machte. Und er verfluchte inständig sein linkes Bein, das ihm so viele Scherereien bereitete. Auch wenn er es nach außen niemals zugeben würde - es gab durchaus rabenschwarze Nächte, in denen der junge Polizist mit dem Schicksal haderte, das ihn viel zu früh so schwerfällig und unbeweglich hatte werden lassen.
Allmählich ging sein Atem wieder ruhiger. Sein Laune stieg, von der Übermüdung einmal abgesehen, gegen die er ständig anzukämpfen hatte. Von hier oben aus hatte er einen ungetrübten Blick über das Wüstendorf - in Waset auch respektvoll Ort der Wahrheit genannt -, das sich am Fuß der großen Mauer erstreckte, mit winzigen Häusern, die aussahen wie perfekt geformtes Spielzeug.
Aber auch zur anderen Seite hin gab es keine Barriere, die ihm den Blick versperrt hätte. Vor ihm lag das tief eingeschnittene, vor langer Zeit ausgetrocknete Flusstal, in dem die toten Könige ruhten. Wie viele Felsgräber hier in
den Felsen geschlagen waren, wusste niemand, doch es gab jede Menge Vermutungen. Schier unermesslich sollten sie sein, die Schätze, die den toten Königen als Grabbeigaben mit auf die letzte Reise gegeben wurden. Gefertigt aus reinem Gold, dem Fleisch der Götter, das den räuberischen Appetit gewisser Leute immer wieder anstachelte.
Aus der Ferne sah Ani einen Trupp Arbeiter, die am Eingang eines der Felsengräber arbeiteten. Klein wie Ameisen kamen sie ihm vor, winzige Lebewesen, die gegen die Unendlichkeit angruben.
Ob Kenamun auch darunter war?
Und was, wenn nicht?
Dann würde Ani völlig umsonst die Mühe auf sich nehmen, über das Geröll hinunterzuhinken. Dieser Gedanke bremste seinen Elan. Er schaute sich um und entdeckte ganz in der Nähe einen Felsvorsprung, der einigermaßen Schatten bot. Ganz Kemet war zurzeit ein üppiger grüner Garten, weil nach der Überschwemmung alles spross und wuchs. Hier aber regierte nach wie vor das unbeugsame Gesetz von Stein und Fels.
Er entschloss sich zu warten.
Wenn stimmte, was Iset ihm mit kargen Strichen auf einem alten Stück Papyrus aufgezeichnet hatte, musste der Heimweg Kenamun unmittelbar hier vorbeiführen. Dabei sollte er Ani möglichst nicht schon von Weitem sehen können. In seiner Ausbildung hatte der junge Polizist beigebracht bekommen, dass ein gezielt eingesetzter Überraschungseffekt oft die besten Ergebnisse erbrachte.
So ließ Ani sich nieder, den Rücken an den Fels gelehnt, die Beine ausgestreckt, und versuchte, es sich auf dem harten Untergrund so bequem wie möglich zu machen. Ein
Weilchen musste er sogar eingeschlafen sein, denn als er wieder erwachte, stand die Sonne um einiges tiefer.
Waren da nicht Schritte gewesen, ganz in der Nähe?
Er lauschte, glaubte plötzlich so etwas wie hastiges Graben im Geröll zu hören. Gebückt schlich Ani näher und versuchte standhaft, das heftige Brennen in seinem Bein zu ignorieren.
Kenamun hockte vor einer kleinen Grube und griff hinein, als sich plötzlich Anis Schatten über ihn senkte.
»Du?« Er wurde blass, als er ihn erkannte, und begann, am ganzen Leib zu zittern. »Aber wieso wusstest du …«
»Was machst du da?« Anis Stimme war eisig.
Kenamun hatte sofort fallen lassen, was er gerade noch in der Hand gehabt hatte, starrte ihn zutiefst erschrocken an und verstummte.
»Schlag das Tuch auf!«, befahl Ani. »Ich will alles sehen.«
»Es ist nicht so, wie du denkst«, begann Kenamun zu stottern. »Das musst du mir glauben …«
»Das Tuch!«, fiel Ani ihm ins Wort. »Und zwar schnell!«
Kenamun gehorchte zögernd.
Als Ani sah, was unter dem Tuch verborgen war, rief er: »Jetzt weiß ich, warum du keine Ruhe mehr findest! Und es wird noch schlimmer werden, das kann ich dir versprechen!
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