Der Kuss des Anubis
seinem Gesicht lag der Schatten eines Grinsens. Er schien sich über ihre Unsicherheit zu amüsieren.
Draußen vor der Schenke schlugen sie den Weg zur Anlegestelle ein. Allerdings waren sie zu spät dran, oder zu früh, je nachdem, wie man es betrachten wollte. Die eine Fähre hatte bereits die Flussmitte erreicht und auf die nächste würde Ani noch eine Weile warten müssen.
»Hast du die Räuber schon gefangen?«, sagte Miu, als
das Schweigen zwischen ihnen lastend zu werden drohte. Es stand ihm gut, dass er jetzt so viel im Freien war. Seine Haut war dunkler geworden, was ihm einen leicht verwegenen Ausdruck gab. »Oder jagst du ihnen noch immer hinterher?«
»Darüber darf ich nicht reden. Dienstvorschrift.« Er schien sich plötzlich auffällig für seine Zehen zu interessieren, die aus den abgelaufenen Sandalen lugten.
»Und Kenamun?«, fuhr Miu fort. »Hast du …«
»Was weißt du von Kenamun?«, fiel er ihr ins Wort.
»Nur das, was Iset mir erzählt hat«, sagte sie, einigermaßen verblüfft über seine unerwartete Heftigkeit. »Dass sie sich große Sorgen macht, weil er nie zu Hause ist, jetzt wo sie doch ein Kind erwartet. Und dass sie dich gebeten hat, mit ihm zu reden, von Mann zu Mann. Und - hast du?«
Er wich ihrem fragenden Blick aus.
»Wann denn?«, sagte er. »Kannst du mir das vielleicht verraten? Tagsüber schlafe ich und abends muss ich zum Dienst.«
»Versuch es trotzdem!«, bat Miu. »Iset ist so unglücklich, weil sie einfach nicht mehr weiterweiß. Wäre ich ein Mann, ich würde es auf der Stelle für sie tun.«
»Du bist aber kein Mann.«
»Nein, das bin ich nicht - zum Glück!«
Was war das eigentlich für eine blödsinnige Unterhaltung, die sie da führten! Weil Miu aber nichts Gescheiteres einfallen wollte, was sie stattdessen hätte sagen können, lief sie zum Wasser. Sonnenstrahlen ließen den Fluss golden aufleuchten. Die ersten Sandbänke tauchten allmählich wieder auf. Bald brach die Zeit der Ernte an, die Kemets große Speicher mit neuen Vorräten füllen würde.
Miu hob die Hand vor die Augen, um nicht geblendet zu werden.
»Die Fähre kommt!«, rief sie.
Ani trat zu ihr, leicht humpelnd, Miu aber tat, als würde sie es nicht bemerken. An Deck befanden sich nur wenige Passagiere. Ganz vorn stand eine schlanke, große Frau in einem hellen Kleid, die ans Ufer zu schauen schien.
Jetzt hob auch sie die Hand vor Augen, um sich vor der Sonne zu schützen, genau so wie Miu.
Näher und immer näher kam die Fähre.
Miu spürte, wie ihre Nackenhärchen sich aufstellten. Da war etwas in der Haltung der fremden Frau, das eine viel zu lang verstummte Saite in ihr anschlug.
Die Art, wie sie den Kopf neigte.
Die schlanken Arme mit den vielen Reifen, die in ständiger Bewegung waren, als ob sie tanzten.
Die Haare, ebenso ungebändigt wie ihre eigenen …
Miu musste schlucken.
»Aber das gibt es doch nicht!«, flüsterte sie. Seths Klauen schienen sich in ihr Herz zu krallen, das so laut schlug, dass sie Angst bekam, es könnte ihr aus der Brust hüpfen. »Das kann einfach nicht sein.«
Hilfe suchend wandte sie sich zu Ani um.
»Siehst du das auch? Träume ich vielleicht? Dann weck mich bitte nicht auf! Diese Frau dort auf der Fähre sieht doch aus wie …«
Er rührte sich nicht. Ja, er sah Miu nicht einmal an.
Was war los mit ihm?
Miu konnte sich jetzt nicht darum kümmern, denn die Fähre hatte anlegt. Nacheinander gingen die Passagiere an Land.
Langsam kam die Fremde auf das Mädchen zu, das ihr mit offenem Mund entgegenstarrte. Hinter ihr ein einfach gekleideter Mann, offenbar ein Diener, der sich mit jeder Menge prall geschnürter Bündel abzuschleppen hatte.
Die Frau war älter als in Mius Erinnerung, aber sonst war alles genauso, wie es sein musste. Augen und Nase. Auch der Mund.
Sie musste es sein!
Jetzt fehlte nur noch die Stimme. Hoffentlich sagte sie endlich etwas!
»Miu?«, fragte sie zaghaft. »Miu, bist du das? Mein großes kleines Mädchen, ich muss …«
»Mama!«, schrie Miu schluchzend und warf sich in ihre Arme. »Mama - du lebst ja!«
NEUNTES KAPITEL
W arum ihr auf einmal derart schwindelig geworden war, dass sogar die Beine ihr den Dienst versagen wollten, wusste Miu später nicht mehr. Es gab auch keinerlei Erinnerung mehr daran, woher auf einmal die schäbige Sänfte aufgetaucht war, in die Mama sie kurzerhand verfrachtete, während sie dem Mann mit den Bündeln Anweisungen gab, wohin er das Gepäck bringen sollte. Was ihr aber trotz
Weitere Kostenlose Bücher