Der Kuss des Anubis
allem im Gedächtnis blieb, war die merkwürdige Passivität Anis, der sich aus allem heraushielt, als hätte die Überraschung ihn in eine Art Lähmungszustand versetzt. Ungewohnt verlegen berief er sich schließlich auf seine Nachtwache und zog sich auf die Fähre zurück.
Dann saßen sie plötzlich dicht nebeneinander.
Die hölzerne Bank war hart und ziemlich schmal. Mama roch nach frischem Schweiß, vermischt mit dem zarten Lilienaroma, das sie schon immer verströmt hatte. Die Straße war holprig und die Träger stellten sich alles andere als geschickt an. Es holperte, wackelte und ruckelte, ihre Knie berührten sich, und auf einmal war es, als fielen all die verlorenen Jahre wie unnütze Hüllen von ihnen ab. Miu begann erneut zu weinen, heftiger als zuvor, und bald liefen auch Sadeh Tränen über die Wangen.
»Aber wo warst du denn nur die ganze Zeit?«, stieß Miu hervor.
»In Mennefer.«
»Ganz oben, im Norden? Dort hast du gelebt? Und warum haben mir dann alle gesagt, du seiest tot?«
»Später«, murmelte Sadeh. »Später, meine Miu!«
Anuket kam aus dem Haus gerannt, kaum dass sie die Sänfte erblickt hatte. Offenbar nahm sie an, die Sänfte wäre wieder vom Palast geschickt worden, obwohl deren Schäbigkeit eigentlich dagegensprach. Als sie neben Miu eine ihr gänzlich unbekannte Frau entdeckte, verschränkte sie angriffslustig die Arme vor der Brust.
»Wer bist du?«, blaffte sie. »Und was hast du mit unserem Mädchen zu schaffen? Antworte gefälligst!«
»Ich bin Sadeh, die Frau des Balsamierers.« Sadeh war leichtfüßig ausgestiegen und hatte es sogar fertiggebracht, ein Lächeln auf ihr verweintes Gesicht zu zaubern. »Und euer Mädchen ist meine Tochter Miu.«
»Aber ich denke, du bist tot …« Fassungslos schaute Anuket von Miu zu Sadeh. Angesichts der Ähnlichkeit der beiden blieben ihr die Worte im Hals stecken.
Sie drehte sich um und lief ins Haus zurück.
»Herrin!«, hörte man sie bis draußen aufgeregt schreien. »Du musst sofort kommen. Entweder versucht gerade eine dreiste Betrügerin, uns hinters Licht zu führen - oder soeben ist ein Wunder geschehen! Dann wäre nämlich die Frau des Herrn von den Toten wiederauferstanden …«
Großmama erschien an der Tür, wurde bleich, als sie Sadeh erkannte, fasste sich an die Brust, schien zu taumeln. Mit ein paar Schritten war Sadeh bei ihr und stützte ihre Mutter, bevor sie fallen konnte.
Dann umarmte sie Raia innig.
Doch Großmama ließ es nur kurz zu, bevor sie sich ihr wieder entzog.
»Was ist los?«, sagte sie mit gerunzelter Stirn. »Wieso bist du auf einmal hier, in Waset? Und warum weiß ich das nicht?«
»Es war keine Zeit, dich zu informieren. Ich sollte das nächste Schiff nehmen - und das habe ich auch getan.«
»Du hättest schreiben können …«, sagte Raia.
»Du … du hast es also gewusst?« Miu stürzte mit aufgerissenen Augen auf sie zu. »Hast gewusst, dass Mama lebt - und mir in all den Jahren nichts gesagt? Wie konntest du nur!«
»Miu«, sagte Sadeh bittend, »all das muss sehr seltsam in deinen Ohren klingen. Aber wir haben so gehandelt, weil es nötig war.«
»Nötig? Es war das Schrecklichste, was ihr mir antun konntet!«
Sadeh rang nach Worten. »Die ganze Angelegenheit ist komplizierter, als du vielleicht denkst. Du musst ein wenig Geduld haben …«
»Geduld? Damit ihr genügend Zeit habt, euch neue Märchen auszudenken, die ihr mir dann auftischen könnt? Das ist das Gemeinste, was ich mir überhaupt vorstellen kann. Ich hasse euch - alle beide!«
Sie rannte an ihnen vorbei, direkt in ihr Zimmer, und warf die Tür krachend hinter sich zu.
Mutter und Tochter sahen sich schweigend an, nachdem Miu auf ihr Zimmer gerannt war.
»Ach, Sadeh, Miu hat ihren eigenen Kopf«, sagte Raia. »Wundert dich das? Oft dachte ich, du stündest vor mir, wenn sie wieder einmal auf Biegen und Brechen ihren Willen durchsetzen wollte.«
Sie deutete nach drinnen.
»Aber gehen wir lieber rein. Sonst hören uns noch alle Nachbarn und das sollten wir vermeiden.«
»Du siehst gut aus, Mutter.« Sadeh folgte ihrer Aufforderung. »Nahezu unverändert, als ob die Jahre machtlos an dir vorübergegangen wären. Ich bin sehr froh, dich so vorzufinden.«
Raia schien ihre gewohnte Fassung zurückzugewinnen. »Das, mein Kind, stimmt leider nicht. Die Krankheit, an der ich leide, heißt Alter. Und nirgendwo gibt es ein Heilmittel dagegen.«
Sie ließen sich auf den Hockern am Fenster nieder.
»Schön hast du es
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