Der Kuss Des Daemons
endeten vor einer weiteren Tür. Ich lauschte noch einmal, ob ich noch immer allein im Haus war, dann stieg ich hinab.
Hinter der zweiten Tür befand sich ein kleiner Raum. Meine Taschenlampe fiel auf weiß gekalkte Wände, einen Stuhl und eine Matratze in der hinteren Ecke, auf der einige zerwühlte Decken lagen. Daneben lehnte ein abgegriffener Seesack an einer Kiste, über der ein gedankenlos hingeworfener Pullover hing. Der Boden unter meinen Füßen war alt und rissig.
Ich schluckte ein Gefühl der Beklommenheit hinunter. Lieber Himmel, das war nicht mehr als ein Loch, eine Mönchszelle. Hatte Julien hier tatsächlich gelebt? Warum hatte er das hier einem der Räume oben vorgezogen? Nur weil er in absoluter Dunkelheit schlafen wollte oder gab es noch einen anderen Grund? Es sah fast so aus, als hätte er nicht gewollt, dass jemand von seiner Anwesenheit erfuhr. Hatte er deshalb auch keinen Elektriker kommen lassen, um den Sicherungskasten wieder in Ordnung zu bringen?
Weil das Licht verraten hätte, dass wieder jemand in diesem Haus wohnte? War das hier tatsächlich Juliens Versteck? Vor wem? Angespannt blickte ich mich um. Wenn überhaupt, dann würde ich hier Antworten finden. Ich kam mir vor wie ein Eindringling, als ich mich genauer umsah. Der Seesack war halb offen, ein achtlos hervorgezerrtes T-Shirt hing aus ihm heraus. Nach einem letzten Zögern kniete ich mich auf den Rand der Matratze und zog den Seesack zu mir heran. Ein bisschen umständlich öffnete ich ihn ein Stück weiter und blickte hinein. Jeans, Sweatshirts, einige Pullover und dazwischen mehrere T-Shirts. Genau die Art von Kleidung, die Julien gewöhnlich trug. Wenn ich noch irgendeinen Beweis dafür gebraucht hätte, dass Julien etwas zugestoßen war, dann hielt ich ihn hier in Händen. Selbst wenn er einfach fortgegangen wäre, nachdem er mit mir Schluss gemacht hatte, hätte er doch wohl niemals seine Sachen hier zurückgelassen. Ich schob die Hand tiefer in den Seesack und kam mir vor wie eine Verräterin. Julien hatte mir vertraut und ich wühlte jetzt in seinen Habseligkeiten. Nur mit Mühe gelang es mir, mein schlechtes Gewissen in Schach zu halten. Es war ihm etwas zugestoßen. Und hier konnte ich vielleicht einen Hinweis darauf finden, was und warum. Als Erstes förderte ich ein Bündel Bargeld zutage. Rasch überschlug ich den Betrag und mir wurde schwindelig. Was ich in Händen hielt, hätte gereicht, um eine ganze Weile mehr als gut zu leben. Wie, in aller Welt, war Julien an so viel Geld gekommen? Mit einem ziemlich mulmigen Gefühl legte ich es neben mich und suchte weiter. Sehr viel tiefer fand ich eine Ledermappe. Ihr vorderes Fach enthielt Zeitungsartikel - unter anderem auch jene, die ich im Internet gefunden hatte - und einige Bilder. Alte Fotografien mit dem typischen Gelbstich und einige, die eindeutig jüngeren Datums waren. Eines der älteren Fotos zeigte einen schlanken, gut aussehenden Mann mit dunklem Haar, der einen Arm um eine zierliche, wunderschöne Frau gelegt hatte. Die beiden saßen auf einer Bank, zu ihren Füßen knieten zwei Jungen von vielleicht zehn oder elf Jahren, die sich so vollkommen glichen wie ein Ei dem anderen und in die Kamera grinsten, als gäbe es dafür einen Preis zu gewinnen. Zwischen ihnen hockte ein kleines Mädchen in einem Bausch aus Spitzenröcken, das wohl kaum älter als fünf sein konnte und jeweils eine Hand der Jungen besitzergreifend mit seinen Händchen umklammert hielt, wobei es ganz den Eindruck erweckte, die beiden nie wieder loslassen zu wollen. Ich war erstaunt, wie gut ich selbst in dem schwachen Licht meiner Minitaschenlampe Details erkennen konnte. Das Papier war an den Ecken bereits ausgefranst, das Bild selbst schon arg verblichen und an den Rändern abgegriffen. Die Ähnlichkeit der beiden Jungen mit ihrem Vater war nicht zu übersehen. Und das Mädchen würde später mit Sicherheit eine ebensolche Schönheit werden wie seine Mutter. Auf der Rückseite des Bildes standen ein Datum und wohl der Ort, an dem es aufgenommen worden war, und darunter mehrere Namen.
-1889, Marseille –
Sebastien et Claire Du Cranier
Adrien, Julien et Cathérine
Ich schluckte. Julien hieß gar nicht DuCraine, sondern Du Cranier - und er war mindestens einhundertfünfundzwanzig Jahre alt. Meine Hände bebten ein wenig, als ich die übrigen Fotografien betrachtete. Da war ein weiteres SchwarzWeiß-Bild seiner Eltern und ein Farbfoto, das sehr viel jüngeren Datums sein musste. Es
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