Der Kuss Des Daemons
fünfzehn Stück. Der letzte war zwei Tage nach meiner Geburt. Doch ich schaffte es ebenso wenig wie zuvor, die verblasste Schrift meiner Mutter zu entziffern. Außer den Daten konnte ich nur hin und wieder ein paar Satzfragmente lesen. Aber das, was ich lesen konnte, deutete nicht darauf hin, dass sie noch einmal weggezogen waren ... Ich schluckte und streckte die Hand nach den Blutflecken aus. Das bedeutete, sie mussten hier getötet worden sein. In diesem Haus. Und wahrscheinlich sogar in diesem Zimmer. Mit zitternden Händen schloss ich das Tagebuch wieder. Onkel Samuel hatte mich also die ganze Zeit belogen. Warum? Und warum hatte er mich wieder hierher in diese Stadt gebracht? Um mir endlich die Wahrheit zu sagen? Weshalb hatte er es dann nicht schon längst getan? Ich wohnte seit über einem Jahr in Ashland Falls. Mit beiden Händen rieb ich mir übers Gesicht. Das ergab für mich alles keinen Sinn. Am liebsten wäre ich nach Hause gelaufen und hätte ihn zur Rede gestellt, doch ich zwang mich tief durchzuatmen und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. So wichtig mir die Wahrheit über meine Eltern war - lebendig würde sie das nicht mehr machen -, ich musste zuerst Julien finden. Ich musste herausfinden, was mit ihm geschehen war. Vor allem, da er irgendetwas über meinen Vater zu wissen schien ... Ein bisschen umständlich stand ich vom Boden auf, riss meinen Blick von den Blutflecken los und verließ das Zimmer.
Vor der Tür zögerte ich. Nichts deutete darauf hin, dass Julien einen der Räume in diesem Stockwerk bewohnt hatte. Im Erdgeschoss hatte es jedoch auch keinen Hinweis darauf gegeben. Allerdings ... Er war ein Lamia, ein geborener Vampir. Hatte er den Keller als Quartier vorgezogen? Gab es so etwas in diesem Haus überhaupt? Ich warf einen letzten Blick in den Raum hinter mir, dann stieg ich die Treppe hinunter. Allmählich lief mir die Zeit davon.
Ich begann meine Suche nach einem Zugang zum Keller in der Halle im Erdgeschoss und wurde sehr schnell fündig. Unter der Treppe war eine Tür, hinter der Stufen in eine dunkle Tiefe führten. Einen Moment überlegte ich, ob ich mir eine der Stumpenkerzen holen sollte, mit denen wir es uns vor dem Kamin gemütlich gemacht hatten, wenn es später wurde, doch dann fiel mir die Minihalogentaschenlampe an meinem Schlüsselbund ein. Ich kramte ihn aus meiner Tasche, hakte sie los, schob die Schlüssel an ihren Platz zurück und ließ den dünnen bläulichen Strahl aufleuchten. Er fiel in ein offenes, gemauertes Gewölbe, das nur hin und wieder von den massigen viereckigen Pfeilern unterbrochen war, die die Decke und damit den Fußboden des Erdgeschosses trugen. Neben der Treppe waren alte Kartons gestapelt, doch ansonsten gab es hier nichts als Staub, Spinnen und vielleicht die eine oder andere Maus. Ein besonders wohlgenährtes Exemplar huschte gerade über den Boden und verschwand in einem Mauerloch. Ich stutzte und ging näher an die Mauer heran, in der die Maus offenbar ihr Heim hatte. Sie war aus rötlichem Stein - die übrigen drei jedoch aus grauem. Rasch sah ich mich in dem Gewölbe noch einmal um und versuchte im Kopf seine Maße mit denen des Hauses darüber zu vergleichen. Der Raum hier war kleiner als das Gebäude selbst. Dafür gab es nur zwei Erklärungen: Entweder war das Haus bei seinem Bau nicht vollständig unterkellert worden oder jemand hatte nachträglich eine Wand eingezogen, die den Raum teilte - was die anderen Steine der vierten Mauer erklären würde. Wenn ich mich nicht irrte, lag die Küche über jenem Bereich des Kellers, der hinter der roten Wand verborgen sein musste. Zwei Stufen auf einmal nehmend eilte ich die Treppe wieder hinauf und lief in die Küche. Ich stieß die Tür zu der dahinterliegenden Speisekammer auf. An allen vier Wänden standen deckenhohe verwaiste Regale, auf denen eine Staubschicht lag. Unter meinen Füßen knarrten die Bohlen, als ich den kleinen Raum betrat. Auf der Suche nach auffälligen Ritzen, die auf eine Falltür hingewiesen hätten, untersuchte ich den Holzboden. Ritzen im Boden gab es keine, dafür aber einen Spalt zwischen dem unteren Regalbrett und den Bohlen auf der linken Seite der Kammer. Ich tastete das Regal genauer ab und entdeckte eine Vertiefung an dem senkrecht stehenden Brett. Als ich die Finger hineinlegte und ein wenig zog, schwang mir das Regal ganz leicht an verborgenen Angeln entgegen. Dahinter führten Treppen in die Tiefe. Vorsichtig leuchtete ich hinunter. Die Stufen
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