Der Kuss Des Daemons
zeigte einen jungen Mann, der keinen Tag älter als fünfundzwanzig zu sein schien und Julien abgesehen von einem winzigen Altersunterschied zum Verwechseln ähnlich sah - und der demnach wohl sein Zwillingsbruder Adrien war. Dann das Bild einer jungen Frau, die, der Ähnlichkeit mit Claire Du Cranier auf der Fotografie von 1889 nach zu urteilen, seine Schwester sein musste. Es gab noch einige weitere Aufnahmen, die mit London, Paris, Genf und sogar Moskau beschriftet waren, die Jahreszahlen 1897, 1898 und 1900
trugen und die offenbar bei Adriens und Juliens spektakulärsten Auftritten auf dem Hochseil aufgenommen worden waren. Die letzte stammte aus dem Jahr 1901 und war in New York entstanden. 1901 war Julien DuCraine in New York bei einem Sturz vom Hochseil »tödlich«
verunglückt.
Vorsichtig
räumte
ich
die
Fotografien
wieder
zusammen und schob sie in das erste Fach der Mappe zurück. Als ich in das zweite blickte, traf mich fast der Schlag. Ausweise. Sieben Stück. Ein deutscher, zwei französische, ein englischer, ein amerikanischer, ein Schweizer und sogar ein kanadischer. Hastig blätterte ich sie durch. Das Bild darin war jedes Mal das gleiche, auch der Vorname war der, den ich kannte. Einer der beiden französischen Pässe lautete sogar auf Julien Du Cranier, der amerikanische auf Julien DuCraine. Die Nachnamen in den anderen klangen ähnlich, unterschieden sich aber in der Schreibweise. Auch die Geburtsdaten variierten. Und zu jedem der Ausweise gab es einen passenden Führerschein. Eine geschlagene Minute starrte ich fassungslos auf die gefälschten Papiere und versuchte einen Sinn in alldem zu finden. Gut, wenn man nicht alterte und weitestgehend unsterblich war, musste man entsprechend »angeglichene« Papiere besitzen. Aber sieben Identitäten? Ich schloss für einen Moment die Augen. Was hatte Julien neben der Tatsache, dass er ein Lamia war, noch vor mir verborgen? Das Geld, die falschen Papiere ... War er vielleicht wirklich in irgendwelche krummen Geschäfte verwickelt? Hatte Onkel Samuel recht gehabt?
Onkel Samuel! Verdammt! Ich blickte auf meine Uhr. Schon kurz nach acht. Er war inzwischen garantiert zu Hause. Rasch stopfte ich die Ausweise und Führerscheine in die Mappe zurück und bemühte mich, sie wieder an ungefähr der gleichen Stelle, an der ich sie gefunden hatte, in Juliens Seesack zu verstauen. Der Strahl der Taschenlampe fiel auf die Kiste. Ich zögerte. Wenn ich die Chance hatte, einen Hinweis darauf zu finden, was möglicherweise geschehen war, würde ich sie nicht einfach verstreichen lassen. Entschlossen zog ich den Pullover herunter und öffnete die Kiste. Verwirrt hielt ich inne und leuchtete in ihr Inneres. Auch sie enthielt Männerkleider, doch waren diese Sachen sehr viel vornehmer und - auf eine unauffällig teure Art - eleganter als das, was Julien gewöhnlich trug. Was hatte das zu bedeuten? Ein paar der oberen Kleidungsstücke schienen erst kürzlich getragen, dann zusammengelegt und wieder in der Kiste verstaut worden zu sein. Welches Spiel spielte er? Die Taschenlampe in der einen Hand grub ich zwischen den Hemden, Kaschmir-Pullovern und Hosen nach irgendetwas Nützlichem, wobei ich gleichzeitig versuchte möglichst wenig Spuren zu hinterlassen. Auch hier fand ich eine Ledermappe, auch in ihr befanden sich Fotografien und Zeitungsartikel unterschiedlichen Alters im vorderen Fach - zusammen mit einer beängstigenden Menge Bargeld. Erneut stellte ich mir unwillkürlich die Frage, woher es stammen mochte, nur um sie rasch wieder zu verdrängen. Ich hätte sie ohnehin nicht beantworten können. Unter den Fotos fielen mir zwei besonders auf. Das erste - ich musste lächeln - zeigte eindeutig Julien. Ein Schnappschuss. Er war in einer Garage oder Werkstatt geknipst worden. Julien kniete in einem fleckigen T-Shirt, mit Öl - oder Schlimmerem - verschmiert neben seiner Blade, hatte sich gerade nach dem Fotografen umgewandt und hielt etwas in den Händen, das nach einem Auspuff aussah. Das Grinsen auf seinem Gesicht war das eines kleinen Jungen, der mit seinem liebsten Spielzeug beschäftigt war. Hinter ihm stand das Garagentor offen und gab den Blick auf einen Sonnenuntergang über einer zerklüfteten, an den Gipfeln weiß überzogenen Gebirgskette in der Ferne frei. Mit einem Gefühl der Wehmut legte ich es zu den anderen Bildern und betrachtete das zweite. Es war das Bild einer silberblonden jungen Frau mit engelsgleichem Gesicht, die den Betrachter sanft
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