Der Kuss Des Daemons
marmoriert waren - selbst die Wände hinauf. In Augenhöhe lief eine Fliesenbordüre mit grünen, blauen und silbernen Ornamenten um den ganzen Raum. Die Badewanne stand auf geschwungenen Klauenfüßen frei unter einem schmalen, hohen Fenster. Über ihrem Rand lagen Handtücher in Griffweite zu einer halbrunden Duschkabine, die sich in der Ecke des Badezimmers befand. Ein fleckig gewordener Spiegel hing über einem Waschbecken, daneben komplettierte eine Toilette die Ausstattung. Ich zögerte, dann trat ich wieder auf den Flur hinaus und sah noch einmal auf Juliens Fußspuren. Sie führten tatsächlich in keinen anderen Raum als das Bad. Wie war das möglich? Hatte er am Ende gar nicht hier oben geschlafen? Aber wo dann? Ich blickte den Flur hinunter. Helle Vierecke verrieten, wo Bilder an den Wänden gehangen hatten. Die Tapete war verblasst und an den Kanten vergilbt. Ein paar der Türen standen offen. Langsam ging ich an ihnen entlang. Meine Eltern hatten hier - zumindest für eine kleine Weile - gewohnt, ehe sie kurz vor meiner Geburt nach New York gezogen waren. Dort waren sie bei einem Raubüberfall getötet worden. Ich blieb abrupt stehen. Der Gedanke war einfach da: War es vielleicht gar kein Raubüberfall gewesen? Nach dem, was im Tagebuch meiner Mutter stand, konnte es sich ebenso gut auch um Mord gehandelt haben. Meine Kehle wurde eng und ich schluckte mehrmals trocken, während ich weiterging. Angespannt und irgendwie ein wenig ängstlich schaute ich in die Zimmer hinein. In jedem standen mit weißen Schutzbezügen verhängte Möbel. Warum hatten meine Eltern alles einfach so zurückgelassen? Ich tastete nach dem Tagebuch meiner Mutter. Ob es in ihm vielleicht eine Antwort darauf gab? Mit einem Gefühl des Bedauerns schüttelte ich den Kopf. Dafür war später noch Zeit. Jetzt musste ich herausfinden, was passiert war und wo Julien steckte. Mit dem stillen Versprechen, dass ich hierher zurückkommen würde, ließ ich den Blick unschlüssig über die Wände gleiten. Ich schaute in den nächsten Raum. Ein Schlafzimmer. Auch hier war alles - selbst das Bett - unter weißen Schonbezügen verborgen. Schließlich erreichte ich die letzte Tür am Ende des Flures. Sie war halb angelehnt. Ich zögerte, ehe ich sie aufstieß. Vor mir lag eine Mischung aus Arbeitszimmer und Bibliothek. Ein eleganter Schreibtisch aus dunklem Holz und Glas stand schräg an einer der Längsseiten, die Front halb zur Tür hin gewandt. Dahinter befand sich ein lederner Sessel mit hoher Lehne. Die Wände bestanden aus bis unter die Decke reichenden eingebauten Bücherregalen, in denen jedoch nicht ein Buch stand. Zwei große Fenster erhellten den Raum - oder hätten ihn erhellt, wenn hinter ihnen nicht bereits der Abend hereingebrochen wäre und damit die Nacht unaufhaltsam näher kroch. Gewöhnlich kam mein Onkel mit der Dunkelheit nach Hause. Ich musste mich beeilen, wenn ich es noch rechtzeitig in mein Zimmer schaffen wollte. Ich wollte gerade gehen, als ich die großen Flecken auf dem hellen Parkett des Fußbodens bemerkte, die selbst durch die Staubschicht auszumachen waren. War das ...?
Unmöglich! Mein Herz klopfte ein wildes Stakkato, während ich den Raum endgültig betrat, neben den Flecken in die Knie ging und den grauen Schleier mit der Hand wegwischte. Nein, ich hatte mich nicht geirrt. Es war Blut. Ein riesiger Fleck uralten, in das Parkett hineingesogenen und getrockneten Blutes. Und nur ein kleines Stück daneben ein zweiter, der etwa ebenso groß
war. Sekundenlang starrte ich darauf und versuchte mir selbst einzugestehen, was die beiden eingetrockneten Lachen bedeuteten: Hier war jemand gestorben. Zwei Flecken - zwei Menschen. So viel Blut. Wer war hier gestorben? Der Gedanke war so grausig, dass mein Verstand sich weigerte ihn zu Ende zu führen. Und außerdem: Hatte Onkel Samuel nicht immer gesagt, meine Eltern wären in New York ums Leben gekommen?
Meine Hand schob sich wie von selbst zu dem Tagebuch meiner Mutter und zog es unter meinem Hosenbund hervor. Einen Augenblick starrte ich unschlüssig auf den verblichenen Einband, dann suchte ich nach dem Eintrag, bei dem Julien aufgehört hatte vorzulesen. Am 10. Mai hatten meine Eltern noch hier gewohnt. Ihr Umzug nach New York musste danach gewesen sein. Meine Mutter hatte ihn bestimmt für wichtig genug gehalten, um etwas darüber in ihr Tagebuch zu schreiben. Rasch blätterte ich durch die Seiten. Es folgten nur noch wenige Einträge, nicht mehr als zehn oder
Weitere Kostenlose Bücher