Der Kuss Des Daemons
Heulen zumute? Ich fluchte, als ich es nicht finden konnte. Vor meinen Augen verschwamm alles. Ich wühlte heftiger in meiner Tasche. Collins' »Die Frau in Weiß« landete mit einem vernehmlichen Klatschen auf dem Boden.
»Ach, verdammt!«, schimpfte ich - warum klang es nur wie ein Schluchzen? - und bückte mich nach dem Buch. Plötzlich war DuCraine neben mir. Seine schlanken, blassen Finger hatten sich ebenfalls um »Die Frau in Weiß«
geschlossen. Erschrocken sah ich auf. Ich hatte noch nicht einmal bemerkt, wie er sich bewegt hatte. Unsere Gesichter waren auf gleicher Höhe, keine zehn Zentimeter mehr voneinander entfernt. Wie damals im Bohemien blieb die Zeit einfach stehen. Ich sah nur noch seine Augen. Seine dunklen, geheimnisvollen, ernsten, wunderschönen Augen. Er ließ den Collins los. Wie ein kühler Hauch legte sich seine Handfläche gegen meine Wange. Ich musste eine kleine Bewegung gemacht haben, denn seine Hand glitt abwärts - und blieb an meinem Hals liegen. Ich spürte seinen Daumen ganz leicht auf dem wilden Pochen meiner Halsschlagader. Sein Blick zuckte von meinem Gesicht fort. Er starrte auf meine Kehle. Etwas in seinen Augen veränderte sich. Sie wurden noch dunkler, wechselten ihre Farbe. Ich konnte sehen, wie er hart schluckte und gleichzeitig die Zähne zusammenbiss. Mit einem Mal kam sein Atem in raschen, zischenden Stößen. Seine Lippen zuckten, die obere hob sich ein winziges Stück. Unvermittelt richtete er sich auf und machte einen Schritt weg von mir, so plötzlich und abrupt, dass ich erschrak. Ich starrte ihn an. Er erwiderte meinen Blick, während er bis zum Kamin vor mir zurückwich - und sich ruckartig abwandte. Nur das Knistern des Feuers war noch zu hören. Ich wagte es nicht, das Schweigen, das wieder zwischen uns hing, zu brechen. Mein Mund war trocken und in meinem Magen saß ein seltsames Flattern. Ein Teil von mir versuchte noch immer zu begreifen, was da gerade geschehen war. Ein anderer hatte Herzklopfen, ein dritter beharrte darauf, dass ich mich irren musste, und ein vierter kämpfte mit einem blödsinnigen Kichern. Ich machte beinah einen Satz auf dem Sessel, als Julien in die Stille hinein sprach.
»Es hat aufgehört zu regnen. Ich hole die Blade aus dem Schuppen. Pack deine Sachen wieder zusammen und komm nach.«
Damit ließ er mich allein. Es kam mir vor, als hätte er mich mit einem Eimer Eiswasser aus tiefem Schlaf geweckt. Seltsam benommen sah ich ihm hinterher und fragte mich, warum ich das Gefühl hatte, gerade in ein tiefes Loch gestoßen worden zu sein und dass Julien DuCraine vor mir davonlief.
Als ich ihm wenig später aus dem Haus folgte, hatte es tatsächlich aufgehört zu regnen und er wartete bereits mit seiner Maschine vor der Eingangstreppe. Die Steine des gepflasterten Zufahrtsweges glänzten vor Nässe. Graue, schwere Wolken bedeckten noch immer den Himmel. Die Sonne stand schon tief und begann ihn im Westen allmählich orange zu färben.
Ich blickte verwirrt auf die Jacke und den Helm, die Julien mir hinhielt. »Was soll ich damit?«
»Anziehen, was sonst? Wir wollen doch nicht, dass du dir nach deiner Regendusche im Fahrtwind eine Erkältung holst.«
Ich überhörte den Spott in seiner Stimme, nahm die Jacke und glitt in die Ärmel. Sie war mir natürlich mehrere Nummern zu groß. »Und was ist mit dir?« Irgendwie schaffte ich es, dass meine Stimme nicht zitterte. Was auch immer zwischen uns geschehen war, es war vorbei.
Lässig zuckte er die Schultern. »Du bist diejenige, die eben noch nass wie eine Katze war, nicht ich. - Kannst du deine Tasche festhalten oder soll ich sie nehmen?«
Nachdem ich seinen Fahrstil kannte, überließ ich ihm meine Sachen. Er schwang sich auf seine Maschine und kickte den Ständer in die Höhe. Ich war noch dabei, hinter ihn zu klettern, da erwachte der Motor schon zu grollendem Leben. Hastig schlang ich die Arme um Juliens Mitte und klammerte mich an ihn. Ich war noch immer wie benommen. Wie konnte er nur von einem Augenblick auf den anderen so völlig ... gleichgültig sein? Es war, als hätte man einen Schalter umgelegt - oder als sei er ein ganz anderer. Wie bei Dr. Jekyll und Mr Hyde. Vielleicht hatte er ja eine gespaltene Persönlichkeit. Glaubte er deshalb, es konnte in seiner Nähe für mich gefährlich sein? Was für ein Unsinn!
Der regennasse Boden hinderte ihn nicht daran, auch jetzt wie ein Wahnsinniger zu rasen, kaum dass wir von dem gepflasterten Zufahrtsweg in die Straße eingebogen
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