Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
noch verrückt! Kaum hatte sie Antworten auf ein paar Fragen gefunden, warfen sie neue auf. Sollte das ewig so weitergehen? Doch das Schlimmste war, dass sie wieder hin- und hergerissen war, was Rafe anging – nachdem er ihr im Grunde seine Liebe gestanden hatte. Oder sollte sie es besser als Besessenheit oder Besitzanspruch auffassen? Jedenfalls fühlte er sich zu ihr hingezogen und wollte sie nicht aufgeben. Konnte ein Dämon Traurigkeit vortäuschen, um sie zu beeinflussen? Wahrscheinlich. Leider. Es gab keine Möglichkeit, in diesem Punkt die Wahrheit herauszufinden.
Und wie stand es um die anderen Dinge, die er behauptet hatte? Die verwirrten sie mindestens ebenso sehr. Dass er irgendetwas Verbotenes getan haben musste, um dafür bestraft zu werden, bezweifelte sie nicht, aber hatte er die Geschichte mit dem Drogendealer nur erfunden oder nicht? Sie konnte auch nah an der Wahrheit sein, und er hatte sie nur dort verbogen, wo es für ihn vorteilhafter aussah. Konnte es sein, dass er Gott – wenn es ihn denn gab – absichtlich in einem schlechten Licht erscheinen lassen wollte? Was für eine blöde Frage! Hatte der Teufel in der Bibel nicht sogar Jesus vom Glauben abbringen wollen? An so viel konnte sie sich aus dem Reli-Unterricht gerade noch erinnern.
Doch Rafe hatte sich auch auf die Bibel bezogen. Er hatte gesagt, sie könne dort nachlesen, dass auch die »guten« Engel Menschen Leid zufügten, wenn ihr Herr es befahl. War Gott denn nicht der »liebe Gott«, von dem man ihr so viel erzählt hatte? Ein gütiger Vater mit weißem Bart, der seinen sündigen Schäfchen alles vergab, weil sich sein Sohn für sie geopfert hatte? Das hatte allerdings noch nie zu den Geschichten über die Hölle und die ewige Verdammnis gepasst, mit denen ihr Großvater ihr manchmal gedroht hatte. Sie erinnerte sich, dass er ein strenger Mann gewesen war, der jeden Sonntag die Messe besucht und regelmäßig gebeichtet hatte, um einst in den Himmel aufgenommen zu werden. Hatte der Pfarrer ihm nie erklärt, dass der Herr ein Gott der Liebe und Barmherzigkeit war? Aber wie konnte er das sein, wenn er einen Menschen für kleine ungebeichtete Vergehen in die Hölle schickte, wie ihr Opa geglaubt hatte?
Opa Joseph hat auch an den Teufel geglaubt. Eigentlich hatten ihr als Kind alle erzählt, dass das Böse von Satan ausgehe und alles Gute von Gott. So ganz hatte sie nie verstanden, warum Gott den Teufel nicht einfach beseitigte, damit die Welt schöner und sicherer wurde. Warum er zuließ, dass Unschuldigen Leid geschah. Ihre Religionslehrerin hatte behauptet, das liege daran, dass die Menschen die freie Wahl zwischen Gut und Böse haben sollten, um sich zu bewähren. Doch was war mit Kindern, die an Krebs starben? Unter wessen falscher Wahl litten sie? Es hatte für Sophie keinen Sinn ergeben, weshalb sie vor Jahren aufgehört hatte, sich mit Gott zu beschäftigen. Aber nun drängten sich ihr die alten Fragen wieder auf, und neue traten hinzu.
War Rafe ein Bote des Teufels, der sie ins Verderben locken sollte, oder sprach er die Wahrheit – oder traf auf eine schwer zu begreifende Weise beides zu? Ging das Böse wirklich von einem Wesen namens Satan aus, wenn es doch Gott war, der die gefallenen Engel dazu zwang, nur noch schändliche Dinge zu tun? Stimmte wenigstens das, oder war es eine Lüge, um sie vom Glauben an den »lieben Gott« abzubringen? Sie musste jemanden fragen, der sich in solchen Fragen wirklich auskannte.
Jean. Er scheint das alles gründlich studiert zu haben. Sie griff bereits nach dem Handy, um sich für den nächsten Tag mit ihm zu verabreden, doch dann kamen ihr Zweifel. Jean würde sofort wissen, wer ihr diese Ideen in den Kopf gesetzt hatte, und für ihn stand bereits fest, dass Rafe als Dämon nur Lug und Trug im Sinn hatte. Konnte sie da eine neutrale Antwort von ihm erwarten? Wohl kaum.
Sie legte sich zurück ins Bett. Wenn sie fundierten theologischen Rat brauchte, musste sie wohl einen Priester fragen. In der Mittagspause hatte sie in der Nähe des Ladens eine Kirche gesehen. Sie würde morgen einfach dort hingehen und um ein Gespräch mit dem Pfarrer bitten. Der Gedanke hatte etwas Tröstliches.
Die Kapelle der Klinik war tatsächlich menschenleer. Die wenigen Bänke ließen sich auf Anhieb überblicken. Jemand hatte Blumen auf den modernen, nüchternen Altar gestellt, und vor einer Marienfigur brannten Opferkerzen auf einem schwarzen Eisengestell. Offenbar kam doch gelegentlich ein
Weitere Kostenlose Bücher