Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
möglich aus dem Augenwinkel beobachten zu können. In Gedanken malte er drei Kreuze auf ihre Stirn, Mund und Brust, bevor er begann, aus dem Markusevangelium zu rezitieren:
»In illo tempore: Dixit Jesus discipulis suis: Euntes in mundum universum, praedicate Evangelium omni creaturae … Jesus sagte zu ihnen: Geht in die ganze Welt hinaus und verkündet allen Geschöpfen das Evangelium! Wer glaubt und sich taufen lässt, wird gerettet; aber wer nicht glaubt, wird verdammt werden. Und durch die, die zum Glauben gefunden haben, werden die folgenden Zeichen geschehen: In meinem Namen werden sie Dämonen austreiben – in nomine meo daemonia eiicient.« Na, was sagst du dazu? Ich weiß, dass du da bist, du Feigling. Sich hinter einem Mädchen zu verstecken, das nicht weiß, wie ihm geschieht, sieht euch feigem Pack ähnlich. Komm raus und zeig dich, wenn du dich traust!
Ein zweites Mal sprach er im Stillen die Verse aus der Bibel. Lilyths Finger begannen, nervös mit dem Bild zu spielen, doch das konnte auch Langeweile oder Unsicherheit sein, weil sie dem Gott ihrer Kindheit gegenüber ein schlechtes Gewissen hatte.
Findest du es nicht unfassbar dreist von mir, dass ich dich dermaßen verhöhne? Ich bin nicht einmal geweihter Priester und fordere dich heraus. Ich verfluche Gott wahrscheinlich öfter als du. Müsstest du da nicht leichtes Spiel mit mir haben? Bring mich doch zum Schweigen, wenn du kannst!
Wieder begann er, das Markusevangelium zu zitieren. Er liebte diese Stelle, weil er sie jenen kirchlich autorisierten Exorzisten um die Ohren hauen konnte, die ihm mit dem Kirchenrecht kamen, das Laien verbot, Dämonen auszutreiben. Es stand dort schwarz auf weiß: Jesus hatte gesagt, dass jeder Getaufte in der Lage sei, es zu tun. Sollten sie an den Paragraphen ihres kanonischen Rechts ersticken! Er würde diesem Dämon zusetzen, bis er vor Zorn explodierte.
Lilyths Faust schloss sich um das knisternde Bild. »O mein Gott! Das wollte ich nicht! Ehrlich, Jean! Ich …« Verzweifelt versuchte sie, das dicke, steife Papier wieder zu glätten.
»Schon gut, Lilyth! Ich glaube dir. Ich habe sogar damit gerechnet, dass so etwas passieren würde.«
»Was?«
»Ich wollte dir keine Angst machen, aber du hast ohnehin schon befürchtet, besessen zu sein, also habe ich ein wenig … probiert.«
Ihr Blick sprang zwischen ihm und dem Heiligenbild hin und her. »Das ist ein Beweis?«
»Ein Hinweis, kein Beweis, aber ich rate dir dringend, Abbé Gaillard seine Arbeit machen zu lassen. Ich werde ja dabei sein.«
Sie wurde noch bleicher. »Nein, ich will das nicht! Er ist ein richtiger Priester. Er wird mich hassen, weil ich für ihn nur irgendeine Satanshexe bin, die Gott lästert und Scheiße baut!«
»Lilyth, stell dich nicht so an! Willst du, dass man dir hilft oder nicht?«
»Nein, dann nicht.«
»Was ist mit …« Gerade wollte er auf ihre noch immer in Verbänden steckenden Arme zeigen, unterbrach sich jedoch, als die Tür der Kapelle aufging und eine ältere Dame an Krücken hereinkam. Höflich nickte er ihr zu.
»Das war’s dann wohl«, meinte Lilyth leise. »Schieb mich wieder zum Fahrstuhl und hau ab!«
»Nachdem du dich schon fast umgebracht hast?« Er holte das zweite Bild heraus, das er für sie eingesteckt hatte. »Ich will nicht, dass du endest wie der hier.«
Entgeistert sah sie auf das Foto des Toten, doch Jean wusste, dass es nicht genügen würde. Sie hatte zu viele Krimis und Horrorfilme gesehen, um es auf sich zu beziehen. Aber es gab eine Verbindung, die sie nicht ignorieren konnte.
»Dieser Mann gehörte zu Caradecs Zirkel.«
Dass am Vortag nur eine einzige Einladung zu einem Vorstellungsgespräch in der Post gewesen war, beunruhigte Sophie, doch Madame Guimard tröstete sie damit, dass während der grandes vacances, der großen Ferien, in Paris nun einmal die Räder still standen. Trotzdem musste sie unbedingt später dem Internetcafé wieder einen Besuch abstatten, falls in ihrem Postfach Reaktionen auf sie warteten. Es fiel so leicht, das Internet zu vergessen, wenn man in einer Wohnung lebte, in der nicht einmal ein Computer vorhanden war. Und man so viele andere Dinge um die Ohren hatte. Eine weitere Wand zu streichen, hatte Madame Guimard ihr zwar verboten, weil es heute noch heißer und dazu schwül werden sollte, doch der Gang in die Kirche war unvermeidlich.
Ausstaffiert mit einem eleganten 20er-Jahre-Strohhut, der sie vor der Sonne schützen sollte und erstaunlich gut
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