Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
Amnesie-Patient solches Wissen haben konnte. Und dann diese seltsame Stille, als sie beinahe entdeckt worden wären. Irgendetwas stimmte mit ihm nicht.
»Galatheia war eine Meerschaumgeborene«, fuhr Rafe fort, »und Akis ihr Geliebter. Sie hätten sehr glücklich miteinander werden können, wenn …«
Sie ahnte seinen Blick mehr, als dass sie ihn sah, und folgte ihm nach oben zu der wuchtigen, bärtigen Gestalt mit flatterndem Umhang, die sich wie ein Ungeheuer über die Grotte der beiden Liebenden beugte. Der Riese hielt etwas in der Hand, das einer Schlange ähnelte, doch im Dunkeln konnte sie es nicht erkennen.
»Wenn der Zyklop Polyphem sie nicht in rasender Eifersucht verfolgt und Akis mit einem Felsen erschlagen hätte.«
Sophie hörte den Zorn in den geflüsterten Worten, spürte ihn in der Anspannung, die Rafes Körper ergriff. Seine Hand packte sie fester, während er sich ihr zuwandte. Sein Kuss war hart und hätte ihre Lippen verletzt, wenn sie nicht geistesgegenwärtig nachgegeben hätte, als sei sie tatsächlich aus Meerschaum erschaffen.
»Aber Akis ist nicht einfach tot.« Rafes Augen funkelten. »Er wurde in einen Fluss verwandelt und wird immer da sein.«
Sie sah vor sich, wie die schöne Galatheia nackt in die Fluten stieg, die einst ihr Liebhaber waren, und schauderte. Er antwortete darauf, indem er ihre Hüften enger an seine zog. Die andere Hand glitt über ihre Brust, streifte einen Träger des Kleids über ihre Schulter. Willig überließ sie sich ihm, spürte die Lust zurückkehren.
Doch ein Winkel ihres Verstands widersetzte sich dem Strudel der Gefühle, raunte ihr beunruhigende Gedankenfetzen zu. Sprach Rafe davon, dass er wie Akis gestorben und auf andere Art zurückgekehrt war? Auf wen war er wütend, wenn er sich doch gar nicht an ihre frühere Liebe erinnerte? Warum hatte er ihr seine Wohnung noch nicht gezeigt, und wo war seine Nachricht hergekommen, wenn sie ihm nie ihre Handynummer gegeben hatte?
Es ist mir gleich, gleich, gleich!, schrie sie stumm auf. Sie wollte nichts mehr hören, nicht mehr zweifeln, nur noch seine warmen Lippen auf ihren Brüsten spüren. Schlug irgendwo eine Turmuhr Mitternacht, oder bildete sie sich das ein? Geisterstunde, wisperte die mahnende Stimme in ihrem Kopf. Und die Medici waren nie eine sonderlich nette Familie.
»Hör auf zu denken, chérie«, murmelte Rafe an ihrem Ohr und küsste es. Sein Körper drängte sie gegen die Wand des Monuments. Das harte Relief drückte sich in ihren Rücken, doch seine entblößte Haut unter ihren Fingern lenkte sie ab.
Die Stille. Erinnere dich an die Stille! Mit einem Mal hatte sie ein Bild vor Augen. Sie saß mit ihrer Großmutter in deren Esszimmer. Die ganze Familie war um den Tisch versammelt, um irgendeinen Geburtstag zu feiern. Es ging hoch her, doch plötzlich waren alle zugleich verstummt, als hätte jemand lauthals um Ruhe gebeten. Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Sophie sah verwundert ihre Großmutter an. Die alte Frau lächelte. »Ein Engel ist durch den Raum gegangen.«
Sophie schnappte nach Luft, als wäre sie aus großer Tiefe aufgetaucht. Instinktiv wehrte sie Rafe ab, während sie noch verzweifelt ihre aufgewühlten Gefühle und Gedanken sortierte. »Wer bist du?«, rief sie. »Oder was?«
»Leise! Du hetzt uns noch die Wächter auf den Hals«, mahnte Rafe und versuchte, sie erneut zu küssen, anstatt ihre Frage zu beantworten.
Aufgebracht stieß sie ihn zurück. »Hör auf damit! Ich will endlich wissen, was du mir verschweigst!« Mit einer Hand fischte sie nach den Trägern von Kleid und BH, mit der anderen schlug sie Rafes Arm zur Seite, als er nach ihr greifen wollte.
Wut blitzte in seinen Zügen auf, bevor er sich sofort wieder unter Kontrolle hatte. »Du redest Unsinn, Sophie. Das hat dir dieser Idiot eingeredet, der nicht das Geringste …«
Sie hörte nicht mehr zu. Lichtschein flackerte durch die Bäume und Sträucher. Wir sind entdeckt! Hastig zerrte sie ihr Kleid zurecht, während sie kopflos davonlief.
»Zum Ausgang!«, herrschte Rafe sie an, überholte sie, packte ihre Hand und zog sie mit sich.
Es war nicht weit zum Tor, selbst mit rufenden Verfolgern im Nacken. Doch Sophie fragte sich panisch, was das bringen sollte, wenn alles verschlossen war. Hinter den doppelt mannshohen Gittern wartete das gewöhnliche nächtliche Paris mit seinen Lichtern und Zechern. Rafe hielt direkt darauf zu. Sie würden gegen die Stangen prallen und in der Falle sitzen. Sophie
Weitere Kostenlose Bücher