Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)

Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)

Titel: Der Kuss des Engels: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Lukas
Vom Netzwerk:
umsponnenen Chor der Kathedrale weitete sich der Park. Bänke standen unter Maulbeerbäumen verteilt, die nach den Regeln französischer Gartenarchitektur streng geometrisch angeordnet waren, bevor die Grünanlagen von einer Straße durchschnitten wurden. Sophie folgte ihr zur unscheinbaren, eisernen Pont Saint-Louis, die die Inseln miteinander verband.
    Wie jedes Mal, wenn sie die Île Saint-Louis betrat, war sie verblüfft, wie viel ruhiger es hier war, obwohl wie überall Touristen die Quais entlangschlenderten und etliche geparkte Autos auf ein gewisses Maß an Verkehr hindeuteten. Doch die Menschen wirkten entspannter, saßen in den kleinen Cafés und löffelten das sündhaft teure Eis von Berthillon, das angeblich beste der Stadt. Klein waren auf der Insel anscheinend alle Läden, obwohl die alten Häuser so hoch aufragten, dass Sophie das Gefühl hatte, am Grund einer Schlucht zu wandern. Sie kam an Designerboutiquen vorbei, die nur aus einem einzigen, nicht eben großen Raum zu bestehen schienen, und an einem Käsegeschäft, in dessen kleinem Schaufenster sich eine unfassbar große Auswahl an unterschiedlichen Laiben häufte. Auf der anderen Straßenseite prangte das Schild der Firma Berthillon selbst. Allmählich hätte sie auch ein Dessert vertragen, aber sie besaß nicht die Nerven, sich jetzt ein Eis zu kaufen. Zuerst musste sie ihren Gang nach Canossa hinter sich bringen und Jean um Verzeihung bitten wie einst König Heinrich der Vierte den erbosten Papst.
    Endlich fand sie das richtige Haus, nachdem sie es zunächst übersehen hatte, weil die Nummer so unauffällig angebracht war. Ein altes, abweisendes Tor schien der einzige Eingang. Sophie drückte die Klinke herunter und erwartete halb, das Tor verschlossen zu finden. Doch es gab nach. Der hölzerne Flügel war schwer, sodass sie Kraft aufwenden musste, um ihn aufzudrücken, aber weder gellte eine Alarmanlage, noch stürmte ein besorgter Concierge heran, der sie zur Rede stellte. Entweder waren die Bewohner dieses Hauses doch nicht so reich, wie die Immobilienpreise der Insel suggerierten, oder sie rechneten nicht mit unerwünschten Eindringlingen.
    Das Tor führte in einen überraschend lichten, grünen Hinterhof, der jedoch nur kurz vom verfallenden Zustand des Hauses ablenken konnte. Taubendreck verunzierte einige Simse der klassizistischen Fassade. Risse im Putz und Unkraut, das aus Ritzen spross, verliehen dem Anwesen eine malerisch heruntergekommene Atmosphäre.
    Gerade entdeckte Sophie, dass es mehrere Türen gab, als sich eine davon öffnete und eine hochgewachsene, blonde Frau heraustrat. Sie hatte das lockige Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden und trug ein Kleid anstatt der Polizeiuniform, doch Sophie war sicher, das Gesicht wiederzuerkennen. Die schöne Fremde kam flotten Schritts über den Hof und ging mit einem höflichen, kleinen Lächeln an ihr vorbei, das nicht verriet, ob sie sich an sie erinnerte. Unnahbar und zielstrebig verließ sie den Hof, bevor sich Sophie von ihrer Überraschung erholt hatte. War sie tatsächlich Jeans Frau oder Freundin?
    Sophie merkte, dass sie wie eine Salzsäule herumstand, und ging zu dem Eingang hinüber, aus dem die Unbekannte gekommen war. Rasch hielt sie die Tür auf, die sich durch einen Mechanismus wie in Zeitlupe schloss, um nicht krachend zuzufallen. Sieben Schilder neben den Klingeln wiesen die Namen der Hausbewohner aus. Auf dem zweiten von oben wurde sie fündig: Méric. Sechster Stock also. Wozu musste dieser Mann noch trainieren?
    Sie betrat das Treppenhaus, das nach Bohnerwachs und altem Holz roch. Ein blass gefärbtes Blumenmosaik war in den Boden eingelassen, und auch die gläserne Lampe an der ergrauten, bröckelnden Stuckdecke ähnelte einer Blüte. Blätter und Ranken setzten sich im schmiedeeisernen Geländer fort, das sich mit den Stufen um einen altertümlichen Fahrstuhl wand. »Außer Betrieb« stand auf einem vergilbten Zettel, der offensichtlich schon länger an diesem Lift hing. Zwei mit bunten Glaseinsätzen versehene Türen führten zu beiden Seiten in Büroräume, wie die Aufschriften der Messingschilder an den Wänden daneben verrieten. Jugendstil, fiel Sophie endlich ein, wie man diese Mode vom Anfang des letzten Jahrhunderts nannte. In ganz Paris fanden sich die Zeugnisse jener Zeit, vom kompletten Bauwerk bis zum Schriftzug der Métro.
    Die vier Etagen, die es bei Madame Guimard zu überwinden galt, empfand Sophie schon als Zumutung, doch sechs Stockwerke schaffte sie

Weitere Kostenlose Bücher