Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
nicht einmal, ohne zwischendurch kurz zu verschnaufen. Je höher sie kam, desto stickiger und wärmer wurde die Luft. Anstrengung und Hitze trieben ihr Schweiß auf die Haut. Schon klebte ihr die eigentlich sommerlich leichte Bluse am Körper, und bestimmt hatte sie einen hochroten Kopf. Sie blieb vor Jeans Tür stehen, um erst wieder zu Atem zu kommen. Bei seiner Statur joggte er wahrscheinlich die Stufen hinauf und lachte über unsportliche Menschen wie sie.
Seine Tür verriet nicht viel über ihn. Während andere Bewohner des Hauses mit mehr oder weniger geschmackvollen Fußmatten, verschiedensten Namensschildern oder ausgesperrten Schuhen Akzente setzten, fand sich vor seinem Eingang kein einziges Accessoire und seine Klingel war unauffällig beschriftet. Sophie läutete. Aus der Wohnung drang ein gedämpftes Schrillen wie von einem alten Wecker, das sofort verstummte, als sie den Finger vom Knopf nahm. Schritte näherten sich der Tür, durch deren farbige Glasscheiben im oberen Drittel sie einen Schemen herankommen sah. Was hatte sie doch gleich sagen wollen? Plötzlich war ihre Kehle trocken.
Jean öffnete die Tür so weit, wie man es niemals tat, wenn man nicht wusste, wer davor stand. »Bonsoir, Sophie.« Seine Wangen sahen unter dem Stoppelbart etwas eingefallener aus, oder bildete sie sich das ein? Ansonsten wirkte er unverändert: dasselbe kurze Haar, dessen Farbe irgendwo zwischen dunkelblond und braun changierte, die übliche, ein wenig zu weite dunkle Kleidung mit den Knitterfalten. Sie versuchte, aus seinem Blick zu lesen, doch die sonst so freundlichen Augen verrieten nichts. »Alex hat Sie schon angekündigt. Kommen Sie doch rein«, bot er mit einer einladenden Geste an.
»Offenbar hätte ich auch keine Minute früher kommen dürfen.« Gott! Noch vor der Begrüßung! Sie wäre am liebsten im Boden versunken. Das hier war schließlich kein romantisches Date.
Irritiert zog er die Brauen zusammen, bis ihm offenbar eine Erklärung einfiel. »Wegen Geneviève?«
Sophies Wangen brannten vor Scham. »Nein, nein, vergiss das! Lass uns noch mal von vorne anfangen! Ich bin hier, weil ich mich bei dir entschuldigen muss.« Na prima! Jetzt hatte sie ihn vor Aufregung auch noch geduzt.
Wenigstens grinste er nun und sah nicht mehr so aus, als würde er die Tür gleich wieder zuwerfen. »Du musst das trotzdem nicht im Treppenhaus machen.«
»Äh, ja, danke«, stammelte sie und ging an ihm vorbei in den langen, schmalen Flur, dessen abgenutztes Parkett unter ebenso abgetretenen, dunkel gemusterten Orientteppichen hervorlugte. »Ich …«
Jean schloss die Tür hinter ihr und deutete auf den ersten Durchgang zur Linken. »Dort entlang.« Seine Miene war schon wieder ernster geworden.
»Ich muss dich wirklich um Verzeihung bitten«, begann Sophie noch einmal. »Du wolltest mir helfen, und ich habe diese ganzen unhöflichen Dinge gesagt. Es tut mir ehrlich leid.«
»Es war nichts dabei, was ich nicht schon öfter gehört hätte«, meinte Jean ungerührt. »Darf ich dir etwas zu trinken anbieten?«
Dass er so schnell darüber hinwegging, verwirrte sie. War er kein bisschen wütend auf sie? »Äh, ja, schon. Nur nichts Hochprozentiges, sonst liege ich gleich unterm Tisch.«
Er nickte und verschwand aus dem Raum, dessen bodentiefe Fenster Sophie sofort magisch angezogen hatten. Jenseits des verschnörkelten Gittergeländers boten sie eine wunderbare Aussicht. Die Stadt war nah, das hektische Treiben jedoch weit weg. Zwischen den Zweigen der Pappeln blinkte das Wasser der Seine, auf der gerade eines der gläsernen Ausflugsboote vorüberfuhr. Über die Bäume hinweg eröffnete sich der Blick auf das gegenüberliegende Ufer, wo Dächer und Fenster im Licht der untergehenden Sonne glänzten. Er reichte von den Türmen der Kirche Saint-Gervais und des mittelalterlichen Hôtel de Ville, des alten Rathauses, bis zu den seltsamen, riesigen Röhren auf dem Dach des Kulturzentrums Georges Pompidou. Vielleicht hätte sie noch mehr entdeckt, wenn Jean nicht mit zwei Gläsern und einer Flasche Rotwein zurückgekommen wäre.
»Schöne Aussicht«, lobte sie und riss sich widerstrebend davon los.
Er lächelte. »Ja, nicht wahr? Ich würdige es viel zu selten.«
Ihr lag auf der Zunge zu fragen, wie er sich diese Wohnung leisten konnte, doch ein Fauxpas war für den Abend dann doch genug. Dankend nahm sie ein volles Glas entgegen und sah sich erst jetzt bewusst im Zimmer um. Die alten, beinahe schwarzen Kolonialstilmöbel
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