Der Kuss des Greifen (German Edition)
sich kaum leisten, sich noch mehr davon zuzulegen …
Ausatmen, verdammt.
»Ach, scheiß auf Zen«, murmelte sie. »Um die Erleuchtung kümmere ich mich, wenn ich sterbe.«
Sie hievte sich von der Toilette hoch, wickelte den großen Berg Haare in ein Handtuch, schloss die Badezimmertür auf und ging hinaus.
In der Zwischenzeit hatte Rufio persönlich zwei Gucci-Koffer in die Suite gebracht. Rune nahm ihm das Gepäck ab, ohne ihn hereinzubitten. Er trat die Tür zu und trug die Koffer in das Schlafzimmer, das Carling sich ausgesucht hatte. Während Carling sich eine Auszeit nahm, setzte er sich auf die Couch, kramte seinen iPod hervor und legte ihn in Griffweite auf den Couchtisch. Dann schaltete er sein iPhone ein, um die Nachrichten abzufragen.
E-Mail? Oh nein. Damit fing er gar nicht erst an. Er hörte nur seine Sprachnachrichten ab. Es waren dreiundsechzig. Vierundfünfzig davon stammten von Frauen. Er drückte auf Löschen, ohne sie sich anzuhören. Acht Nachrichten waren von den anderen Wächtern. Sie klangen etwa so:
Bayne: »Also, wie ist die Arbeit da draußen im Team Durchgeknallt? Hat sie dich schon abgefahrenes Zeug machen lassen?«
Abgefahrenes Zeug , schnaubte Rune. So abgefahren, wie du es dir niemals vorstellen könntest.
Graydon: »Wo sind diese Dateien, die ich mir für dich ansehen sollte? Durch dieses System auf dem gemeinsamen Laufwerk blicke ich nie durch, und du hast versprochen, es mir zu zeigen. Ruf mich zurück, wenn du Zeit hast.«
Nein, Sohn. Das kriegst du schon allein raus. Ich vertraue dir.
Constantine: »Alter, es ist Freitagabend, und die ganzen Weiber fangen an, Blumen und Teddybären und Kerzen vor deiner Tür anzuhäufen. Sie unterhalten sich gedämpft und wirken so traurig, als wärst du gestorben oder so. Also, ich gehe mit ein paar von ihnen aus, du weißt schon, nur um sie zu trösten. Diese Zwillinge. Ich dachte, du wüsstest es vielleicht gern.«
Rune kannte die Zwillinge, von denen Con sprach. Nimm sie dir, du Hengst.
Graydon: »Ich ruf nur noch mal an, um dir zu sagen, du brauchst dich nicht drum zu kümmern. Ich habe aufgegeben und bin in die IT gegangen, und da haben sie mir gezeigt, wie ich an die Dateien komme. Ich hoffe, du hast ein schönes Wochenende.«
Na also. Du hast es rausgefunden. Ich wusste, du würdest es schaffen.
Aryal: »Scheißkerl.«
Offenbar hatte Aryal gerade den Berg Arbeit entdeckt, den er ihr auf den Schreibtisch gelegt hatte. Sein Grinsen wurde böse. Oh ja. Das bin ich, ich weiß.
Grym: »Zur Info: Ich habe die Ermittlungen zu dem Vorfall in Prag abgeschlossen. Es war schlicht und einfach ein Unfall, keine Industriesabotage. Kein Grund, zurückzurufen, ich dachte nur, du würdest es vielleicht gern wissen.«
Gute Arbeit, Kumpel.
Aryal: »Beschissener Scheißkerl.«
Aus Runes Grinsen wurde ein Kichern.
Bayne: »Aaaalter, du hörst die Nachrichten ab und meldest dich nicht bei uns? Du sollst nur wissen, wie weh das tut, jetzt wo Tiago gekündigt hat und du außer Dienst bist.«
Hör auf rumzujammern. Du wirst es überleben.
Die letzte Sprachnachricht war von Dragos. Sie war wie die meisten von Dragos’ Nachrichten, einfach und auf den Punkt und ohne irgendwelche Höflichkeiten. »Ruf mich so schnell wie möglich an.«
Runes Lächeln erstarb, er seufzte. Dragos machte sich nur selten die Mühe, zum Telefon zu greifen, vom Hinterlassen einer Nachricht ganz zu schweigen. Das hatte so gut wie nie etwas Gutes zu bedeuten. Rune überprüfte Datum und Uhrzeit der Nachricht, sie war am Samstagvormittag um elf Uhr eingegangen. Um was für ein Problem es sich auch handeln mochte, es hatte bereits einige Tage Zeit gehabt zu gären. Wenigstens hatte Dragos keine zweite Nachricht hinterlassen, was Rune hoffen ließ, dass sie noch nicht Defcon One erreicht hatten.
Er schüttelte den Kopf und kniff sich in die Nasenwurzel. Ihm wurde gerade bewusst, dass er seit drei Tagen keine Nachrichten gehört hatte. Er fand die Fernbedienung für den Fernseher und schaltete CNN ohne Ton ein. Ihm sprangen keine Bilder von verheerenden Katastrophen entgegen.
Gerade überlegte er, ob er Dragos zurückrufen oder lieber einen Zeitpunkt abwarten sollte, an dem er weniger unter Druck stand, als Carling aus dem Schlafzimmer kam. Sie hatte ihre Koffer noch nicht geöffnet und trug noch immer den Hotelbademantel. In der Hand hielt sie ein Handtuch. Er sah zu, wie sie auf den Balkon hinaustrat. Dort schüttelte sie das Handtuch aus, und ihre Haare fielen in die
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