Der Kuss des Greifen (German Edition)
geschürzten Lippen blickte Carling Rune an. Tapp, tapp, tapp machte ihr Fuß.
Sicher, er sollte sich entschuldigen. Er wusste, dass er sich nicht rational oder normal verhalten hatte. Sein Ringen darum, den Paarungsvorgang zu unterdrücken, forderte seinen Tribut – nicht nur von ihm, sondern von jedem in seiner näheren Umgebung. Diese schmale Linie, die er nicht überschreiten wollte, begann ihm in die Haut zu schneiden, aber er konnte sich nicht von Carling trennen. Noch nicht. Selbst wenn sie alle Hilfe hätte, die sie bräuchte, hätte er sie nicht verlassen können. Er brauchte die Zeit, die sie miteinander verbringen konnten – wie viel das auch sein mochte – bevor ihre unterschiedlichen Leben sie auseinanderrissen. Aber er konnte sich auch nicht zu seinem inneren Kampf bekennen, weil er sie mit dieser Bürde nicht belasten wollte – nicht, solange sie mit so vielen anderen Dingen fertig werden musste. Im Gegensatz zu Rhoswen war er kein egozentrisches, unausgeglichenes Kind.
Er suchte nach irgendetwas Vernünftigem, das er sagen könnte, fand jedoch nichts. Also sagte er stattdessen: »Das ist doch gut gelaufen, findest du nicht?«
Sie starrte ihn an, und dann schlug sie ihm mit dem Handrücken kräftig vor die Brust.
Jetzt, da der andere Kerl gegangen war, konnte sich Rune genug entspannen, um seinem katzenhaften Spieltrieb nachzugeben. Mit rauer, heiserer Stimme sagte er: »Ich mag deinen Hang zur Gewalt.«
Ein leicht irrer Ausdruck schlich sich in ihre Augen. Sie schlug ihn erneut, diesmal fester.
Er wusste, dass er es verdient hatte. Aber es machte so viel Spaß, dass er einfach nicht aufhören konnte. Gottverdammt, er liebte es. Er konnte es genauso gut zugeben: Er liebte sie. Mit einem schläfrigen, unschuldigen Lächeln sah er sie an. »Was habe ich denn gemacht?«
Sie fuhr auf dem Absatz herum und schien nach irgendetwas zu suchen. Ihr Blick wanderte von einer Tür zur anderen. Dann schien sie zu einer Entscheidung zu kommen, marschierte ins Bad und knallte die Tür hinter sich zu. Deutlich hörte er das Klicken, mit dem der Schlüssel umgedreht wurde.
Rune reckte den Kiefer und rieb sich die Augen. Oh ja, das war gut gelaufen.
Carling klappte den Toilettendeckel herunter, setzte sich und stützte das Gesicht in die Hände. Sie versuchte nicht nachzudenken. Sie wollte nicht nachdenken. Es gab zu viel zu denken, zu viel zu fühlen, und die Kakophonie in ihrem Kopf machte sie verrückt. Sie wollte nur ein bisschen verdammte Zeit für sich.
Einatmen. Ausatmen. Langsam und gleichmäßig.
Wenn ihr das Atmen auch sonst nichts nützte, war es doch eine gute Meditationsübung. Es konnte ihr helfen, eine Zen-artige Ruhe zu erlangen. Die nämlich konnte Carling jetzt gut gebrauchen, anstatt innerlich vor Wut darüber zu toben, was für ein Volltrottel eine bestimmte Person war. Und was zum Teufel war eigentlich mit Rhoswen los? Man hätte meinen können, sie wäre wieder eine schwindsüchtige, achtzehnjährige Diva, die zu Zeiten des kalifornischen Goldrauschs mit dieser erbärmlichen, schäbigen Shakespeare-Theatertruppe auf der Bühne stand, und nicht eine hundertsiebenundzwanzig Jahre alte Frau …
Was hatte sie bei Rhoswen so falsch gemacht? Was hatte sie getan oder unterlassen? Was hätte sie anders machen können? War sie so abhängig davon geworden, Emotionen von Lebewesen zu fühlen, dass sie sich nie die Mühe gemacht hatte, hinter Rhoswens glatte Fassade zu blicken? Sie presste sich die Handballen vor die Augen.
Stopp. Einatmen.
Rhoswen war kein Problem, um das sie sich jetzt kümmern musste. Später – falls es für sie ein Später gab – würde sie darüber entscheiden, ob wegen der jungen Vampyrin etwas unternommen werden musste. Dass sie sich kleinlich und rachsüchtig aufführte, weil ihre Gefühle verletzt waren, musste nicht zwingend bedeuten, dass Rhoswen irgendetwas Unüberlegtes tun würde. Aber wenn es doch dazu käme, wäre Carling als Rhoswens Schöpferin dafür verantwortlich, sie auszuschalten.
Apropos, hier lag ein riesengroßer Berg Haare, die Carling auf dem Badezimmerboden hatte liegen lassen. Mit ihren nackten Zehen stupste sie den seidigen Haufen an. Unter normalen Umständen hätte sie sich niemals so lange von einer solchen Überfülle an persönlichem Material entfernt. Jeder hätte es stehlen und benutzen können, um sie mit einem Zauber zu belegen. Ihre übliche, akribische Sorgfalt entglitt ihr, und das war eine weitere Schwachstelle. Sie konnte es
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