Der Kuss des Greifen (German Edition)
sich an ihre bloßen Füße gekuschelt.
»Der Wyr wartet im Großen Saal auf eine Audienz mit dir«, sagte Rhoswen.
Carling nickte. Sie schob das schläfrige Tier von ihren Füßen und verließ die Küche durch die Schwingtüren, bevor der Hund ihr folgen konnte. Ohne auf sein klagendes Bellen zu achten, ging sie über die Steinfliesen des ausgedehnten, stillen Flurs zum großen Saal. Das einzige Geräusch war das Flüstern von Stoff, mit dem sich der Kaftan um ihre Knöchel bauschte.
In den Grundzügen war das Haus wie ein mittelalterliches Herrenhaus aufgebaut; zur einen Seite gingen die Küche sowie die Vorrats- und Speisekammer ab, und zur anderen lag neben privaten Wohnbereichen und weiteren Zimmern der zweigeschossige große Saal mit seinem wuchtigen, zwei Meter hohen Kamin, dessen Sims aus Stein gemeißelt war. Anders als in einem mittelalterlichen Herrenhaus verfügten der große Saal und die anderen Zimmer, die zur Meerseite hinausgingen, über bodentiefe und deckenhohe Fenster mit Blick über die Klippen, auf denen das Haus erbaut war.
Das Haus war von einer hüfthohen Mauer aus unbehauenen Steinen umgeben, die sich am äußersten Rand der Klippen entlangzog. Innerhalb der Mauern war das Grundstück in verschwenderischer Dichte mit gelben Goldkörbchen, scharlachroten Mormonentulpen, kalifornischen Sonnenblumen, Stromorchideen, Strand-Berufkraut und Löwenmäulchen bepflanzt. Kletterrosen wimmelten an einem Gitter empor, das die Haupteingangstür umrahmte; ihre riesigen Blüten waren in Duft gehüllt.
Die Insel selbst war nierenförmig und mehr als sechseinhalb Kilometer lang. Das Haus auf den Klippen lag in der inneren Rundung der Niere, und seitlich der Klippen führte ein schmaler Weg in Zickzacklinien zum Strand hinunter, wo einige Segelboote festgemacht waren. Im Umkreis des großen, aus Stein gebauten Herrenhauses gab es weitere, kleinere Häuser, die jedoch im Augenblick leer standen. Am entferntesten Ende der Insel ragte ein Redwood-Wald empor; die gigantischen Bäume waren Tausende von Jahren alt, und ihre Spitzen ernährten sich aus den Nebeln, die sich vom Meer hereinwälzten. In den obersten Zweigen dieser antiken Mammutbäume lebten schüchterne, geheimnisvolle, geflügelte Kreaturen, die sich versteckten, sobald sich andere Wesen näherten.
Carling konnte den Wyr bereits spüren, bevor sie den Saal betrat. Am Durchgang zwischen Küche und Saal blieb sie stehen, um die überwältigende Wirkung seiner Gegenwart abzufangen.
Er stand lässig vor den Fenstern, das Gewicht auf ein Bein verlagert, und strahlte die Ruhe von jemandem aus, der viel zu bieten und nichts zu beweisen hat. Er hatte ihr den Rücken zugekehrt und die Hände in die hinteren Taschen seiner zerrissenen, verwaschenen Jeans gesteckt, während er aufs Meer hinaussah. Feucht und wirr fiel sein Haar auf die breiten Schultern. Sie roch Salzwasser und den warmen, kraftvollen Duft eines gesunden Wyr-Mannes. Vor Tausenden von Jahren hatte er die Menschen als fremdartiger, gigantischer, kämpferischer Gott weit überragt. Selbst jetzt noch war er größer als die meisten Männer, und sein langer, kräftiger Körperbau war der Inbegriff maskuliner Kraft und Anmut.
Stärker noch als die Wirkung seiner physischen Erscheinung war jedoch die ätherische Kraft, die ihn umgab und sie traf wie ein Schlag. Selbst wenn er ruhig dastand, strahlte er wilde Vitalität aus. Kraft und magische Energie verdampften auf ihm in einer Korona aus kleinen Wellen, die für die meisten Menschen unsichtbar war. Doch Carling konnte sie sehen, wie Hitzewellen, die von einem in der Sonne schmorenden Highway in der Wüste aufstiegen. Alle unsterblichen Wyr, die bei der Entstehung der Erde geboren waren, hatten dieselbe urwüchsige Lebensenergie. Sie trugen Funken vom ersten Schöpfungsfeuer in sich.
Carling holte tief Luft – ein anachronistischer Rückfall in uralte Zeiten. Gerade registrierte sie die unwillkürliche Reaktion ihres Körpers auf den Ansturm seiner Gegenwart, da ließ ihn das kleine, verräterische Geräusch den Kopf zur Seite neigen. Er drehte sich zu ihr um.
Der nächste Schlag durchfuhr ihren Körper, als sie sein makelloses, kühnes Gesicht sah. Auch in seinem Körperbau spiegelte sich die vornehme Natur seiner Gesichtszüge wider; er besaß eine männliche Eleganz, die ins Auge fiel und das Herz berührte. Er hatte einen schönen Mund mit sinnlich geschwungenen, lebhaften Lippen, aber das charakteristische i-Tüpfelchen seiner
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