Der Kuss des Greifen (German Edition)
Gefallen hatte sie mit verschwenderischer Hand vergeudet wie ein verwöhntes Kind, das zu viel Spielzeug geschenkt bekommen hatte. Seine Lippen entblößten zusammengebissene Zähne.
Letztlich gewann weder das Raubtier noch seine Vernunft oder Intelligenz die Oberhand, sondern sein Stolz. Er hob seinen Seesack auf. Der wasserfeste Behälter, den Duncan ihm gegeben hatte, lag noch unten am Strand. Es war an der Zeit, weiterzuziehen. Er würde heimlich ein paar Tage Ruhe und Entspannung einschieben, bevor er sich auf den Rückweg nach New York machte. Wieder zu klarem Verstand kommen, bevor er heimkehrte und sich mit Dragos auseinandersetzen musste. Das war bei Gott das Mindeste, was er sich verdient hatte.
Er riss die bogenförmig geschwungene Flügeltür des Haupteingangs auf und ging mit großen Schritten den Weg entlang, dem Rest seines Lebens entgegen. Wohltuend heftig blies ihm die heiße Glut der gelben Morgensonne ins Gesicht. Noch wohltuender würde die beißende Kälte des Ozeans sein, wenn er zurück in die Zurechnungsfähigkeit schwamm. In San Francisco hatte er eine Menge erfreulicher Dinge vor. Er würde in seiner Suite im Fairmont Hotel einchecken, sich ein paar der Fünf-Sterne-Annehmlichkeiten gefallen lassen und sich auf die Jagd nach einem Scotch und einem Teller Bœuf Bourguignon machen, während er mit sich darüber verhandelte, wie viel Zeit er sich nehmen sollte, bevor er wieder Kontakt zu Dragos suchte. Vielleicht lieferte das Fairmont Bœuf Bourguignon auch per Zimmerservice. Warmes Essen, Alkohol, Fünf-Sterne-Service und ein gutes Spiel auf einem Plasmafernseher. Vielleicht gab es auch einen alten Gamera-Film im Kabelfernsehen. Er liebte dieses fliegende japanische Schildkrötenmonster. Oh ja, Baby. Es rief förmlich nach ihm.
»Wächter, warten Sie!«, rief Rhoswen hinter ihm. Ihr eindringlicher Ruf wurde von eifrigem, hohem Kläffen begleitet. »Verdammtes Stück Scheiße! Komm zurück!«
Entschuldigung, geht’s noch? Ungläubig neigte er den Kopf zur Seite und drehte sich langsam auf dem Absatz herum.
Rhoswen stand im Schatten der geöffneten Eingangstür, ein gutes Stück vom tödlichen Einfall des Sonnenlichts entfernt, während ein kleines Fellknäuel mit grimmigen schwarzen Knopfaugen und winzigen Zähnen auf ihn zuflitzte.
Rune hob die Brauen. Wenn er sich nicht irrte, war dieses Fellknäuel ein Zwergspitz. Er hatte schon mehr als genug davon gesehen, schließlich lebte er in New York.
Denken wir noch mal darüber nach.
Er hob den Blick und sah Rhoswen an. Vampyr. Dann sah er hinunter auf den Wadenbeißer. Zwergspitz.
Zu Rhoswen sagte er: »Sie haben einen Hund.«
»Nein«, antwortete sie. Der hasserfüllte Blick, mit dem sie den Wadenbeißer bedachte, war selbst aus der Entfernung unverkennbar. »Carling hat einen Hund. Ich bin nur damit gestraft, mich hin und wieder um ihn kümmern zu müssen.« Sie zischte den Hund an: » Hierher! «
Er knurrte Rune an und vergrub seine Zähne in dessen Hosensaum.
Runes übliche gute Laune kehrte zurück, und er musste grinsen. »Carling hat einen Hund«, murmelte er vor sich hin. Er hob die Stimme und sagte zu Rhoswen: »Bei dem Lärm, den er veranstaltet, glaube ich kaum, dass er Sie hören kann.«
»Der kleine Irre hört nie auf mich«, sagte Rhoswen. In der schönen Stimme der Vampyrin schwang Missmut mit. Sie lächelte Rune entschuldigend an. »Würde es Ihnen viel ausmachen, ihn mir zurückzubringen?«
»Überhaupt nicht«, sagte Rune. Er hob den Wadenbeißer mit einer Hand hoch und unterzog ihn einer eingehenderen Betrachtung.
Der Hund strampelte mit allen vieren in der Luft und knurrte Rune an. Ihm fiel auf, dass zwei der Hundebeine krumm waren. »Was bist du doch für ein kleiner Napoleon.« Er schlenderte zum Eingang zurück. »Warum hat Carling einen Hund?«
»Ich habe keine Ahnung«, sagte die Vampyrin. »Das werden Sie sie fragen müssen. Vor sieben Monaten kamen wir von einer Feierlichkeit der Nachtwesen zurück und waren auf dem Weg zu Carlings Stadthaus in San Francisco, als sie dieses Vieh am Straßenrand entdeckte. Es war von einem Auto angefahren worden. Ich wollte ihm das Genick brechen und es von seinem Elend erlösen, doch Carling belegte es mit einem Heilungszauber und bestand darauf, es zu einem Tierarzt zu bringen.« Rhoswen sah Rune entrüstet an. »Sie brät ihm Hühnchen.«
Rune reichte ihr den kleinen Napoleon. Als Rhoswen den heftig zappelnden Hund an ihre Brust presste, füllten sich ihre Augen mit
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