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Der Kuss des Greifen (German Edition)

Der Kuss des Greifen (German Edition)

Titel: Der Kuss des Greifen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thea Harrison
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hinaufstarrte, wobei sie die Augen mit der Hand beschirmte. Zu ihren Füßen lagen ein Bündel Getreide und ein Messer.
    Da war er nun, ohne Rand-McNally-Atlas und ohne GPS -System. Rune mochte nicht nur Frauenfilme und Damenmode, er wusste auch immer, wann er sich verirrt hatte und anhalten musste, um jemanden nach dem Weg zu fragen. Außerdem war er sich seiner Männlichkeit sicher. Er mochte einer von vier Greifen auf der Welt sein, aber er fand, wenn man diese Eigenschaften noch zu dem ganzen Rest dazuzählte, machte ihn das so einzigartig wie nur was.
    Er behielt die Gestalt fest im Blick, während er zu einem langsamen, spiralförmigen Sinkflug ansetzte. Es war entweder ein Kind oder ein kleiner Erwachsener. Also gut, wenn er sich nur auf die empirischen Tatsachen stützte (was offensichtlich unmöglich war, aber er war bereit, sich auf diese Sache einzulassen), würden alle Erwachsenen, denen er begegnen könnte, klein sein. Zumindest kleiner als die im einundzwanzigsten Jahrhundert.
    Die Gestalt trug ebenfalls einen Shenti und sonst nichts. Der schmutzige Fetzen Stoff war um schmale Hüften geschlungen. Ob nun Kind oder Erwachsener, aus jedem Zentimeter seiner Haltung sprach äußerstes Erstaunen. Aber zumindest rannte er oder es nicht panisch davon. So weit, so gut.
    Als er knapp zwanzig Meter von der Gestalt entfernt landete, nahm Rune seine menschliche Form an. Er wartete einen Moment ab, um ihr Zeit für eine Reaktion zu lassen. Inzwischen war er sicher, dass es sich um ein weibliches Kind handelte. Sie schien starr vor Schreck. Ihre Haut war von der Sonne tief nussbraun gefärbt, und sie hatte einen leichten, zarten Knochenbau, schmutzige Füße und einen kleinen, runden Bauch unter den schmalen Rippen.
    Das wirre dunkle Haar des Mädchens funkelte in der Sonne in einem satten kastanienbraunen Schimmer, als würde tief darin ein Feuer brennen. Es ließ die Hand sinken, und Rune konnte ihre langgezogenen, dunkel glänzenden Mandelaugen sehen, in denen ein scharfer Verstand funkelte.
    Als er sie erkannte, traf es ihn wie ein Schlag ins Gesicht. Ihre noch nicht ausgewachsenen Züge ließen bereits den spektakulären Knochenbau erkennen, und in den kindlich geschwungenen Lippen ihres offen stehenden Mundes war schon die sinnliche Schönheit angelegt, die sie eines Tages erlangen sollten.
    Heilige Scheiße.
    »Hallo Darling«, flüsterte er, während er sie anstarrte.
    Sie war ein atemberaubendes Ding der Unmöglichkeit. Es konnte nicht sein, dass er vor dem Kind stand, das Carling einmal gewesen war, aber irgendwie war es trotzdem so. War er in ihren Erinnerungen gefangen? Wie war das möglich? Es wirkte alles so echt, das konnte doch keine Illusion sein. Oder doch?
    Das Mädchen sagte etwas mit einer zittrigen, hohen Stimme. Die fließend klingenden Worte waren ihm fremd und unverständlich.
    Einen Augenblick lang weigerte sich sein erstarrtes Hirn zu reagieren. Dann, als würde er einen lange unbenutzten Muskel beugen, verstand sein Geist die Bedeutung ihrer Worte. Sie hatte in einer lange ausgestorbenen Sprache gesprochen.
    »Bist du Atum?«
    Für die alten Ägypter war Atum der Gott der Schöpfung, das Wesen, von dem alle anderen Gottheiten abstammten. Rune schüttelte den Kopf und suchte nach den richtigen Begriffen für eine Antwort, die diese Version von Carling verstehen könnte.
    »Nein«, sagte er und versuchte mit aller Macht, Geborgenheit und Sicherheit in seiner Stimme zu transportieren. Ob es sich hier um die Realität oder eine Illusion handelte, konnte er später herausfinden. In diesem Moment spielte es keine Rolle – bei den Göttern, er hoffte nur, dass die kleine Carling nicht ausreißen und vor ihm davonlaufen würde. »Ich bin etwas anderes.«
    Das Mädchen zeigte mit zittriger Hand in die Ferne. »Aber ich habe dich aus dem Wasser kommen sehen.«
    Rune wandte den Kopf. Der Fluss wand sich außer Sichtweite. Dem Mythos zufolge war Atum am Anbeginn der Zeit aus einem Abgrund voll Wasser emporgestiegen, der die Erde umgab. Als sich Rune in seine Wyr-Gestalt verwandelt und in die Luft geschwungen hatte, musste es aus der Ferne ausgesehen haben, als sei er aus dem Wasser gekommen.
    Sanft wiederholte er: »Ich bin kein Gott. Ich bin etwas anderes.«
    Er erwartete nicht, dass sie ihm glaubte. Sie hatte ihn gerade als Greif fliegen sehen – was sollte er sonst für sie sein? Die frühen Religionen waren voll von solchen Dingen, denn in jener Zeit hatten die Wyr ihre Gestalt verwandelt und

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