Der Kuss des Greifen (German Edition)

anders als ein normaler Übergang. Er suchte nach einer Beschreibung dafür, um das, was er spürte, zu begreifen. Es fühlte sich … gekrümmt an, als führte es um eine Biegung, die es in anderen Übergangspassagen nicht gab. Und wenn es ein Übergangspunkt war, warum spürte Rhoswen ihn dann nicht und überquerte ebenfalls die Grenze? Lag es an ihrer fehlenden magischen Energie? Carling besaß höllisch viel magische Energie. Wenn es mitten in ihrem Schlafzimmer eine Dimensionspassage gäbe, hätte sie das doch inzwischen bemerkt haben müssen und es vielleicht für erwähnenswert gehalten. Wenn es sich um eine Übergangspassage handelte, wohin führte sie dann? Oder war er in einer Art kunstvoller Illusion gefangen?
    Und wo in diesem ganzen Mysterium steckte Carling?
    Er rieb sich den Nacken. Er hatte sich immer eher für die Grinsekatze als für Alice gehalten, aber das hier wurde wirklich immer verquerer.
    Es gab nur einen Weg, es herauszufinden.
    Er schritt voran, hinein ins pralle Licht des sengenden Wüstentags.
    Zunächst hörte er nichts als das gewaltige, einsame Heulen des Winds, der sein ewiges Lied sang. Dann erklang über ihm der schrille, wortlose Schrei eines Vogels. Hitze brannte vom Himmel herab, und Sand blies ihm ins Gesicht. Er blieb kurz stehen, um sich drei Landmarken zu suchen und seinen Standort zu triangulieren, damit er zu diesem Punkt zurückkehren konnte. Wenn es sich hier wirklich um eine Übergangspassage handelte, konnte sich dieser Ort als der einzige Weg zurück ins Haus erweisen.
    Auf zwölf Uhr legte er einen kahlen, gedrungenen Felsen, der aus der Landschaft emporragte. Damit lag der silbrige Schimmer des Wassers auf zehn Uhr, was für eine ideale Triangulation etwas zu nah am Felsen war, aber es musste reichen. Als er über die rechte Schulter blickte, sah er nichts als Wüstendünen. Er wählte die höchste Düne auf fünf Uhr aus. Für eine langfristige Navigation wäre die Düne natürlich wertlos, da sich der Wind und die Dünen im Laufe der Zeit verändern würden, doch für seine Zwecke würde es hoffentlich ausreichen. Er hatte nicht vor, sehr lange hier zu bleiben – wo auch immer hier sein mochte.
    Dann ließ er seine menschliche Fassade wie einen Satz Kleidung fallen und nahm Wyr-Gestalt an. Er breitete die gewaltigen Schwingen aus, duckte sich mit peitschendem Löwenschwanz und erhob sich in die Luft, um durch die brutale Hitze auf die Felsen zuzufliegen. Bei Flügen über städtischem Gebiet tarnte er sich normalerweise, um Komplikationen mit den Flugsicherungssystemen zu vermeiden, doch diese Landschaft wirkte so ländlich, dass er sich deswegen keine Sorgen machte.
    Im Flug konnte er das Land aus der Vogelperspektive betrachten. Aus dem wässrigen Schimmern wurde ein großer, gewundener Fluss inmitten von üppig grüner Vegetation und goldenen Getreidefeldern, die an der angrenzenden Wüste abrupt endeten.
    Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag. Heiliger Bimbam. Wenn er nicht völlig falsch lag, war das der Nil. In früheren Jahren war er schon einige Male den Nil entlanggeflogen. Er hatte ihn in allen drei Stadien des antiken Flutzyklus gesehen, bevor im Jahr 1970 der Assuan-Staudamm den saisonalen Überflutungen ein Ende gemacht hatte. Die reifen Felder voller Weizen und Gerste deuteten darauf hin, dass Shemu war, die Jahreszeit der Ernte, die in modernen Kalendern auf Mai und September fallen würde.
    Er drehte bei und flog einen weiten Kreis, um die Landschaft abzusuchen. Mit seinen Augen, die so scharf waren wie die eines Adlers, konnte er meilenweit sehen.
    Er sah keine Stromleitungen, keine Satellitenantennen, keine motorbetriebenen Boote auf dem Fluss, keine Fahrzeuge, keine Pflaster- oder Schotterstraße. Keine moderne Bewässerungstechnologie oder Maschinen. Keine Rauchwolken von Raffinerien in der Ferne. Keine Flugzeuge.
    Einfache Häuser aus gebrannten Lehmziegeln säumten das Flussufer. Hinter einer Gruppe braunhäutiger Männer auf Pferden, die am westlichen Ufer entlangritten, stieg eine Staubwolke auf. Sie waren über eine Meile entfernt. Soweit Rune erkennen konnte, hatten sie Shentis oder Lendenschurze an und trugen Speere mit kupfernen Spitzen und Schilde aus Holz.
    Okay, er versuchte immer noch, dem Ganzen einen Sinn abzuringen.
    Er senkte seinen Adlerkopf, um das Land unter sich zu erkunden. Direkt unter ihm, knapp fünfhundert Meter entfernt von einer Siedlung aus acht Häusern, sah er eine winzige, aufrecht stehende Gestalt, die zu ihm