Der Kuss des Greifen (German Edition)
Schulter, die sich unter seinen Fingern zerbrechlich anfühlte. Ihre Knochen waren so leicht und schlank wie die eines Vogels. Düster sah sie ihn an.
»Hör zu, Darling«, sagte er, wobei er seine Stimme ruhig und gelassen klingen ließ. »Ich glaube, wir sollten ein paar Schritte ins Feld hineingehen und uns im Getreide verstecken, nur bis wir wissen, was diese Männer wollen.«
Oder zumindest versuchte er, ihr das zu sagen. Gerade als die Worte aus seinem Mund kamen, zerschmolz die Festigkeit ihrer Schulter unter seiner Berührung. Instinktiv versuchte er, nach ihr zu greifen, doch seine Finger schlossen sich zu einer leeren Faust. Khepri starrte auf seine Hand und griff mit ihren kleinen braunen Fingern danach. Ihre Hand war durchsichtig geworden und glitt durch seine hindurch. Sie hob das Gesicht, und beide starrten einander an.
Rasch sah sich Rune um. Die Umrisse des Zimmers waren aufgetaucht und zeichneten sich wie zarte Linien über dem heißen Wüstennachmittag ab. Der senkrechte Rand eines Vorhangs verlief mitten durch die Reiter mit ihren erhobenen Speeren. Der Reiter an der Spitze zielte und warf seinen Speer auf den Dorfbewohner, der ihm am nächsten stand. In einer Explosion aus flüssigem Karminrot drang die Kupferspitze des Speers aus dem Rücken des Mannes.
Oh zur Hölle, nein.
Er sah, wie Khepris Lippen ein Wort formten. Obwohl er es nicht hören konnte, erkannte er es. Papa. Sie öffnete den Mund und schrie.
Nein, verdammt. Was auch immer hier los war – Erinnerung, Illusion oder Realität –, er wollte das Kind nicht so zurücklassen, nicht jetzt, noch nicht. Er wollte sich vor sie werfen, damit sie nicht mehr sehen konnte, was die Reiter taten. Er versuchte, sie auf den Arm zu nehmen, um mit ihr davonzulaufen, doch substanzlos wie ein Geist glitt sie einfach durch seine Arme hindurch.
Khepri und der Rest der Wüstenszene verblassten vor seinen Augen. Wieder spürte er eine Art Übergang, dieses spezielle, gekrümmte Gefühl, als würde man um eine Ecke biegen, doch die Vorstellung entglitt ihm wieder, so sehr er auch versuchte, sie im Geiste festzuhalten.
Dann stand er schwitzend in einem großen, kühlen, abgedunkelten Schlafzimmer, dessen eine Wand von einem Kingsize-Himmelbett dominiert wurde. Auf der anderen Seite, vor einem gemütlich aussehenden, vielbenutzten Kamin, war eine Sitzgruppe mit Sesseln, Fußhockern und Beistelltischchen eingerichtet.
In einem der Sessel saß Carling, ein aufgeschlagenes Buch lag auf der Armlehne. Rasputin war auf ihren Schoß gesprungen und leckte ihr die Wangen. Neben ihr kniete Rhoswen auf dem Boden, hielt ihre Hand und sagte ihren Namen. Mit einer Grimasse schob Carling den Hund von ihrem Gesicht fort, und dieser ging unter frenetischem Schwanzwedeln dazu über, ihr die Hand zu lecken. Dann fiel Carlings Blick auf Rune. Sie sah ihn, den Hund und Rhoswen an, als hätte sie keinen von ihnen je zuvor gesehen.
Sie sagte: »Irgendwas ist geschehen.«
Carling kämpfte gegen ein Gefühl der Orientierungslosigkeit an. Sie hatte versucht, eine ziemlich verzerrte Geschichte der Dunklen Zeitalter zu lesen, und den Autor dabei abwechselnd unterhaltsam und ärgerlich gefunden. Das Letzte, woran sie sich erinnerte, war, dass sie das Buch beiseitegelegt hatte, um das Sonnenlicht des Spätnachmittags zu betrachten, und jetzt lag ihr Schlafzimmer in fast vollständiger Dunkelheit. Obwohl sie sich mit aller Macht dagegen gewehrt hatte, war sie offenbar wieder in Trance gefallen.
Schwere Verzweiflung lag in der Luft. Rasputin war jedes Mal verstört, wenn sie einen Schub hatte. Sie hatte keine Ahnung, woran der Hund spürte, was los war. Schließlich gab sie es auf, ihn beruhigen zu wollen, und packte ihn einfach mit einer Hand fest im Nacken, um seinen wild zappelnden Körper festzuhalten.
Auch was Rhoswens Betrübnis anging, gab es keine Unklarheiten. Wenn Carling in Trance fiel, versetzte das die andere Vampyrin jedes Mal in Panik. Aus diesem Grund hatte Carling es auch auf die lange Bank geschoben, ihr von den Schüben auf der Reise nach Adriyel zu erzählen.
Rhoswens Panik war zwar ermüdend, jedoch nichts Neues. Nun richtete Carling ihre Aufmerksamkeit auf den Ursprung der scharfen, grimmigen Energie im Zimmer. Vor ihrem geistigen Auge loderte Rune auf wie ein aggressiver, gewaltiger Infrarot-Vulkan. Er atmete schwer und roch nach scharfem Männerschweiß und Anstrengung. Was war mit ihm geschehen?
Als sie ihn ansah, schien er sich zu sammeln. Er kam zu
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