Der Kuss des Greifen (German Edition)
eingehende Untersuchung gefallen zu lassen, setzte sie die Erkundung seines sagenhaften Körpers fort. Über den riesigen, grazilen Bogen seines Flügels zu streichen beruhigte sie. Im tiefdunklen Bronzeton seiner Handschwingen glitzerten goldene Funken. Sie strich die Fahne einer Feder entlang, die so lang war wie ihr Oberkörper.
»Verlierst du die jemals?«, fragte sie. Die Feder fühlte sich so stark an, als wäre sie aus Stahl.
»Manchmal«, sagte Rune. »Nicht oft.«
»Wenn du das nächste Mal eine verlierst, denk beim Festival der Maske oder zu Weihnachten an mich«, sagte sie. Zur Wintersonnenwende feierten die Alten Völker zu Ehren der sieben Urmächte jedes Jahr ein Fest namens Maske der Götter . Zwar war die Maske traditionellerweise eine Tanzveranstaltung, doch man tauschte auch Geschenke aus, wie etwa zu Weihnachten oder Chanukka.
Er reckte den Hals, um sie skeptisch anzusehen. »Ich soll dir etwas von mir geben, das du bei einem deiner Ausraster verzaubern kannst?«
Sie sah ihn mit großen Augen an. »Ich würde niemals ein Geschenk benutzen, um jemanden zu verzaubern.«
Seine unglaublichen Löwenaugen verengten sich. »Ich glaube, deine Nase wächst.«
Sie lachte laut auf und gab dann zu: »Vielleicht werden die Ränder ein klein wenig angesengt.« Ein Teil von ihr erschrak darüber, dass sie überhaupt lachen konnte und ihre Gefühle eine so scharfe Kehrtwende hingelegt hatten.
Behutsam strich sie die Feder wieder glatt, und Runes Konturen begannen zu schimmern, als er die Gestalt eines Mannes annahm. Er saß im Schneidersitz auf dem Boden, und ihre Hände ruhten auf seiner breiten Schulter. Er war dasselbe Wesen. Noch immer toste diese unglaubliche magische Energie unter ihren Fingerspitzen. Seine gebräunte Haut strahlte Hitze ab, und sein Haar war von allen Farben seiner Wyr-Gestalt durchzogen.
Sie wollte ihn nicht loslassen, nur weil er beschlossen hatte, dass es an der Zeit war, die Gestalt zu wechseln. Also machte sie sich an seinem zerzausten, schulterlangen Haar zu schaffen und fuhr mit den Händen durch die Strähnen, um das Gewirr zu glätten.
»Kämmst du dieses Durcheinander denn nie?«, grummelte sie. Es war großartig, aber das würde sie ihm nicht sagen. Schlimm genug, dass ihr bereits herausgerutscht war, wie überwältigend sie seine Greifengestalt fand. »Und trägst du nie Jeans ohne Löcher?«
»Ich kaufe mir neue Jeans, wenn ich wieder in die Stadt komme, extra für dich.« Er drehte den Kopf und schloss die Augen. Als sie die Hände an seine warmen, hageren Züge legte, die so schön waren, dass ihr das Herz davon schmerzte, biss sie sich auf die Lippe.
»Ich habe solche Angst«, sagte sie. Die Worte purzelten aus Carlings Mund, und weitere fielen hinterher. »Früher habe ich mir nicht gestattet, irgendetwas zu fühlen. Ich war so weit gekommen, dass ich akzeptieren konnte, was geschah. Ich war bereit für das Ende. Doch jetzt fühle ich wieder alles. Ich fühle zu viel, und ich habe wirklich Angst.«
Rune legte die Arme um sie und zog sie zu sich hinunter, bis sie auf seinem Schoß saß. Ihr Kopf erinnerte sich an die perfekt geformte Mulde zwischen seinem Hals und seiner Schulter, und sie schmiegte sich wieder hinein. Mit seinem ganzen Körper hielt er sie fest und umfasste mit einer Hand ihren Kopf. Sie fühlte sich seltsam eingehüllt von seiner Stärke, fühlte sich zerbrechlich und irgendwie bewundert. Ihr Arm fand einen Weg um seinen Hals, und im nächsten Moment klammerte sie sich an ihn.
»Schon in Ordnung«, sagte er, und für einen Augenblick glaubte sie, er würde dumme Floskeln von sich geben. »Es ist in Ordnung, Angst zu haben. Es ist auch alles beängstigend.«
»Ich würde lieber einem Monster gegenübertreten«, flüsterte sie. Sie barg ihr Gesicht an der warmen Haut an seinem Hals und atmete seinen sauberen, männlichen Duft. »Mit Monstern ist es leicht. Das hier nicht.«
»Nein, das ist es nicht«, flüsterte er. Er wiegte sie leicht hin und her.
Da waren sie wieder, diese fremdartigen Empfindungen, die er in ihr hervorrief, das Gefühl, dass sich sämtliche Türen und Barrieren in ihr öffneten. Obwohl ihr Kaftan sie bis zu den Knöcheln verhüllte, fühlte sie sich nackt. »Ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll, dass sich meine Erinnerungen verändern«, flüsterte sie. »Auch wenn ich alles und jeden verloren hatte, konnte ich mich doch immer auf mich selbst verlassen. Jetzt habe ich nicht einmal mehr das. Ich weiß nicht mehr,
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