Der Kuss des Greifen (German Edition)
zeigen, dass es nichts gab, wovor sie Angst haben musste, dass alles gut werden würde. Aber dessen war er sich selbst nicht mehr sicher. Sie hatte recht, Monster waren einfach. »Du weißt, dass ich dich jetzt nicht allein lassen kann, oder? Ganz egal, wie sehr du das von mir forderst, ich kann einfach nicht.«
Ihre herrlichen Augen suchten seinen Blick. Sie seufzte. »Ich will nicht, dass du gehst«, gab sie zu. »Es war die Angst, die vorhin aus mir gesprochen hat. Auch wenn das alles seltsam und beängstigend ist, so ist es doch besser, als zum Stillstand zu kommen und auf den Tod zu warten. Vielleicht finden wir in diesem ganzen Chaos tatsächlich etwas, das mein Leben rettet.« Sie drehte die Handfläche nach oben und schloss die Finger um seine. »Denn ich möchte leben – wenn schon aus keinem anderen Grund, dann um dieses Rätsel zu lösen und zu entdecken, was Leben noch bedeuten kann. Vielleicht wird es so sonderbar, dass es interessant ist.«
»Leben ist immer interessant«, sagte er. »Du hast dich nur gelangweilt.«
Er liebte es, sie lachen zu sehen. Jedes Mal, wenn sie es tat, sah sie überrascht aus.
»Ja, das habe ich wohl.«
Den Blick auf die perlmuttfarbenen Ovale ihrer Fingernägel gerichtet, nickte er. Mit brutaler Ehrlichkeit, denn zu etwas anderem war er nicht fähig, gestand sich Rune ein, an welchem Punkt er stand.
Er mochte sie. Er mochte sie so sehr, dass es an seinen Eingeweiden zerrte. Ein heftiges Verlangen, das er noch nicht befriedigen konnte.
Wenn Wyr sich paarten, taten sie es fürs Leben. Es gab eine Grenze, an der eine unwiderrufliche Veränderung eintrat. Niemand wusste genau, wo diese Grenze verlief, weil das, wie er glaubte, bei jedem unterschiedlich war. Die Paarung bestand bei Wyr aus einer komplexen Kombination von Entscheidung, Sex, Instinkt, Handlungen und Gefühlen.
Er glaubte nicht, dass eine Paarung stattfinden konnte, ohne dass etwas Tiefes, Grundlegendes in einem Wyr dazu bereit war. Er hatte aus erster Hand miterlebt, wie sowohl Dragos als auch Tiago die Qualen der Paarung durchgestanden hatten. Mit beiden Männern hatte er sich während dieses Prozesses unterhalten, und bei Tiago hatte er sogar alles darangesetzt, ihn dazu zu bringen, seinen Kurs zu ändern. Das hätte ihn beinahe Tiagos Freundschaft gekostet – und nicht nur seine, sondern auch die von Niniane. Weder Dragos noch Tiago hatten sich dafür entschieden, sich zurückzuziehen, als sie erkannten, was los war. Stattdessen hatten sie ihr Schicksal angenommen. Mehr noch, sie hatten alles in ihrer Macht Stehende getan, um es möglich zu machen.
Im Laufe seines Lebens waren Rune einige andere potenzielle Gefährtinnen aufgefallen. Es hatte ein paar Frauen gegeben, die ihm interessant genug erschienen waren, um zu denken: Du könntest geradezu perfekt sein. Letztlich hatte er sich um keine von ihnen bemüht.
Jetzt fragte er sich, was wohl geschehen wäre, wenn er es getan hätte. Vielleicht überhaupt nichts. Vielleicht wären sie großartige Affären gewesen und ihm als schöne Erinnerung geblieben. Er hatte keine Gefährtin gesucht und beschlossen, es nicht zu riskieren.
Bis jetzt glaubte er, dass alles in Ordnung war. Eine gefährliche Faszination verwandelte sich nicht von allein in eine Paarung. Dazu würden Carlings eigene Barrieren beitragen.
Er hatte sich in ihr geirrt. Vielleicht war sie nicht der kichernde Typ Freundin, und vielleicht ließ sie nicht allzu viele Leute nah an sich heran, aber sie saß nicht allein und völlig abgeschottet auf einer Zinne. Sie war um andere besorgt, manchmal sogar sehr tief und oft wohl mehr, als sie selbst wusste. Deshalb war Duncan so bekümmert gewesen, als Rune mit ihm gesprochen hatte. Und deshalb hatte Carling auch Rhoswens übersteigerte Hingabe so lange ertragen und darauf bestanden, Rasputin zu behalten und gesund zu pflegen, obwohl es für sie weder einfach noch angenehm gewesen sein konnte. Er fragte sich, ob sie den wahren Grund kannte, aus dem sie Rasputin Hühnchen briet. Sie tat es nicht, um sich daran zu erinnern, wie sich körperlicher Appetit anfühlte. Sie tat es, um sich an Liebe zu erinnern.
Davon abgesehen bestand die unsichtbare Grenze zwischen ihnen noch immer. Sie waren immer noch zu unterschiedlich, ihre Leben lagen zu weit auseinander. Er konnte sich bis zu dieser Grenze vorwagen und dann beschließen, nicht weiterzugehen.
Wenn ein Wyr eine Paarung einging, gab er seiner Gefährtin sein Leben hin. Ein so drastisches Geschenk
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