Der Kuss des Greifen (German Edition)
überraschen, wenn mir jemand erzählte, dass die Legende der Sphinx nach ihrem Vorbild entstanden sei. Ständig hat sie die Zeiten …« Runes Stimme verlor sich.
Carling wartete und studierte seine versteinerte Miene. »Was?«, hakte sie nach.
In ihr machte es Klick, als er von dem fernen Ort zurückkehrte, an dem er gewesen war, und ihr scharf und konzentriert in die Augen sah. »Sie hat ständig die Zeiten verwechselt«, sagte er. »Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.«
»Die Zeiten verwechselt?« Carling holte tief Luft. Suchend streckte sie die Hand aus, und er ergriff sie. »Was, wenn der Vampyrismus tatsächlich mit ihr seinen Anfang genommen hat? Vielleicht hat sie unter der gleichen Art von Schüben gelitten?«, flüsterte sie.
»Mach dir nicht zu große Hoffnungen«, murmelte er sanft. Vielleicht herrschte in ihrem Hirn auch einfach ein ständiges Durcheinander. Außerdem ist sie inzwischen höchstwahrscheinlich ohnehin verschwunden.«
Carling nickte zwar, doch er wusste nicht, wie aufmerksam sie wirklich war. »Wir müssen rauskriegen, was ihr zugestoßen ist.«
»Ja«, sagte er. Sie zog ihre Hand weg, und er trat einen Schritt zurück.
Sie ging in den Hauptraum des Landhauses zurück, und er folgte ihr. Während er das fremde Terrain erkundete, auf dem sie sich bewegten, beobachtete er den anmutigen Schwung von Carlings Hüften. »Was die zweite Meinung angeht, von der ich gesprochen habe: Es gibt da jemanden, den ich zu dieser ganzen Sache gern befragen würde, wenn es dir nichts ausmacht.«
Carling legte die Schriftrolle auf dem Tisch ab und nahm einige Gegenstände aus einem Regal, darunter mehrere Kerzenleuchter sowie einen leeren Marmormörser und einen Stößel. Wieder öffnete sie die Schriftrolle und beschwerte die Ecken mit den Gegenständen. Dann ließ sie sich auf ihren Stuhl nieder, und während die Schatten des frühen Abends das Zimmer an sich rissen, studierte sie die uralte Zeichnung mit einer Neugier, als wäre sie von jemand anderem angefertigt worden.
»Wenn du glaubst, dass es uns weiterhilft, macht es mir nichts aus«, sagte sie. »Solange sich die Person diskret verhält.«
»Sie ist eine Pathologin und Meduse«, sagte Rune, der neben ihr am Tisch lehnte. »Deshalb hat sie einen speziellen Blickwinkel, der uns nützen könnte.«
Carling hob den Blick. »Sprichst du von dieser Leichenbeschauerin aus Chicago, die Ninianes Angreifer obduziert hat?«
»Von genau der«, sagte Rune. »Dr. Seremela Telemar.«
»Ich habe ihre Autopsie-Berichte gelesen. Sie war sehr kompetent.« Als ihre Gedanken zu dem Zeitpunkt zurückwanderten, an dem sie an diesem Nachmittag aus der Trance erwacht war, fiel ihr etwas ein. »Warum hast du nach deinem Taschenmesser gesucht?«
Er lehnte sich ein Stück zurück, stützte sich auf den Händen ab und ließ die Beine baumeln. »Ich habe es verloren.«
»Ich erinnere mich deutlich, dass du den Bindfaden damit durchgeschnitten und es dann wieder in deine Tasche gesteckt hast.«
»Dann habe ich es nicht verloren«, sagte er. »Als ich in deiner Erinnerung gefangen war, habe ich es Akil, dem Priester, gegeben.«
Sie holte Luft. »Das wusste ich nicht.«
»Das solltest du auch nicht. Ich habe ihn angewiesen, es geheim zu halten.« Sein Blick wurde grüblerisch. »In meinen Augen gibt es hier zwei Möglichkeiten. Die erste ist, dass unsere Erlebnisse in sich abgeschlossen waren und wir nur deine Realität verändert haben – was, wie du mir glauben kannst, schon welterschütternd genug wäre.«
Sie legte die Hände links und rechts der Schriftrolle flach auf den Tisch. »Wem sagst du das? Theoretisch ist es möglich. Es gibt Zauber, die auf der Kraft des Glaubens basieren, insbesondere Illusionen. Man kann jemanden auf diese Weise töten, wenn er nur stark genug an etwas glaubt.«
Er blickte sie nachdenklich an, verfolgte diesen Gedanken jedoch nicht weiter. »Wenn du also glaubst, dass das Ereignis real war, könnte darin eventuell die Kraft liegen, dich physisch zu verändern, richtig?« Als sie nickte, fuhr er fort: »Vielleicht lag auch die Kraft darin, mich zu verändern. Ich kann nicht daran rütteln, dass mir alles sehr real vorkam. Wir dürfen nicht vergessen, dass diese Sache uns beiden widerfährt. Nur treten die Ereignisse für mich eher linear auf.«
»Außerdem hast du im Gegensatz zu mir keine körperlichen Wunden davongetragen«, murmelte sie.
»Und dann gibt es die zweite Möglichkeit«, sagte er. »Und es hat keinen Sinn,
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