Der Kuss des Greifen
einen Schritt auf sie zu. »Solltest du uns zum Narren halten wollen, Lysandros, so warne ich dich: Du bekommst den Drachentöterlohn erst, wenn einen Monat lang niemand mehr den Drachen gesichtet hat. Wir werden jemanden hinaufschicken, um den Wahrheitsgehalt deiner Worte zu prüfen.«
»Falls Ihr jemanden findet, der freiwillig hinaufgeht«, sagte Linos spöttisch zu Nikodemos und kraulte seinen kurzen Bart.
Nikodemos fuhr zu ihm herum. »Es wird jemand freiwillig hinaufgehen, dafür werde ich sorgen!«
Linos räusperte sich. »Wir können ja eine Ziege hinaufschicken mit einem Erkennungszeichen, sagen wir einem rot gefärbten Strick. Sollte sie zurückkehren, so ist nichts zu befürchten.«
»Warum traut Ihr mir nicht zu, den Drachen zu erlegen?«
»Nikodemos sah sie von oben herab an. »Sieh dich doch an, so dürr, wie du bist. Wie ein Krieger siehst du nicht aus, sondern wie ein Milchknabe und so behandelt dich deine Mutter auch. Weder machst du bei den Spielen noch bei anderen Wettkämpfen mit. Nicht mal wenn wir baden bist du dabei. Offenbar hast du sogar Angst vor dem Wasser.« Er lachte.
Das saß! Nerea hatte Lysandra alles untersagt, womit sie halbwegs den ständigen Hänseleien aufgrund ihres schmalen Wuchses entkommen hätte können. In Hellas gehörte die Leibesertüchtigung zu den Tugenden eines Mannes. Entsprechend muskulös waren die meisten. Nur sie nicht. Daran hatte auch ihr heimliches Training kaum etwas geändert. Früher hatte sie sich für missgestaltet gehalten, da sie anders aussah als die Männer, doch heute wusste sie, dass ihre Ziehmutter sie ihr ganzes Leben lang belogen hatte. Doch das Gefühl, dass etwas mit ihrem Körper oder ihr nicht seine Richtigkeit hatte, war nie gänzlich von ihr gewichen.
»Du weißt, dass du in Schwierigkeiten gerätst, solltest du uns belogen haben«, sagte Nikodemos. »Wahrscheinlich warst du nicht mal oben auf dem Berg.« Die Männer machten kehrt und gingen davon. Noch einige Minuten lang hallte in Lysandras Ohren Nikodemos’ höhnisches Gelächter nach.
Es war dennoch besser, sie dachten so gering von ihr, als dass sie die Wahrheit wussten.
Lysandra musste Cel warnen, dass sie wahrscheinlich jemanden zur Corycischen Grotte hinaufschicken würden.
Er und die anderen waren natürlich schon weitergezogen, da sie vermeiden mussten, zusammen mit Kore aufgegriffen zu werden. Für die Pythia konnte dies den Verlust ihres Amtes bedeuten. Eine anständige Frau hatte das Haus nicht zu verlassen und sich schon gar keinen Männern zu zeigen.
Aufgrund ihres Alters würden sie Kore zumindest nicht mehr einer Hure gleichstellen – wie sie es zweifelsohne mit Lysandra täten, käme jemals ihr wahres Geschlecht in Erfahrung. Sie wäre eine Geächtete, an der ein ehrbarer Mann niemals Interesse zeigen würde – es sei denn, er suchte eine Prostituierte. All ihre Hoffnungen auf einen Mann und eine eigene Familie waren gestorben, bevor sie überhaupt aufkeimen hatten können. Wie schon häufig zuvor fragte sie sich, ob sie Nerea lieben sollte, weil sie sie aufgezogen hatte, oder hassen, weil sie ihr das Leben genommen hatte.
Lysandra eilte zu Kores Haus, doch fand sie keine Spur von Cel. In einem der hinteren Räume flackerte ein Licht. Offenbar war Kore bereits wieder zurück.
Lysandra verspürte bleierne Müdigkeit. Die Nacht war zu weit vorangeschritten, um noch zur Corycischen Grotte zu laufen und vor Tagesanbruch zurückzukehren. Betrübt lief sie nach Hause.
Kapitel 5
»Was treibt er mit diesen beiden Männern?«, fragte Damasos am nächsten Morgen seine Mutter Nerea. Er war Lysandras fünf Jahre jüngerer Ziehbruder, der gerade mal siebzehn Sommer zählte, sie aber dennoch um einen Kopf überragte. Sein Blick war hasserfüllt auf sie gerichtet, als sie sich gewahr wurde, wie schnell Gerüchte sich verbreiteten. Man hatte sie mit Aiolos und Cel in der Stadt gesehen. Gewiss hatte Nikodemos sie an ihre Familie verraten.
»Mit einem Betrüger und einem Barbaren!« Damasos’ Stimme war voller Abscheu. Auch er trug sein Haar schulterlang, doch war es eine Nuance heller als das ihre. »Wusste ich es doch, dass es mit Lysandros ein schlimmes Ende nehmen würde.« Damasos’ Lippen bildeten über dem Kinnbart einen dünnen Strich, so verkniffen waren sie. »Er hat doch kein besonderes Verhältnis mit einem der beiden?«
Damasos spielte auf das Lehrer-Schüler-Verhältnis an, das nicht selten zwischen sehr jungen und älteren Männern
Weitere Kostenlose Bücher