Der Kuss des Greifen
praktiziert wurde – gleichgeschlechtlicher Liebe inklusive. Sobald der Jüngling erwachsen war, wurde die Beziehung fortan auf platonisch-freundschaftlicher Basis weiterbetrieben.
Nerea erbleichte, denn was dies für Lysandra bedeuten würde, war ihr klar.
»Dafür ist er doch zu alt«, sagte ihre Ziehmutter schnell. Sie war Lysandras Tante, die sie nach dem Tod ihrer Mutter, Nereas jüngerer Schwester Phoebe, zu sich genommen hatte.
Ihr Ziehbruder Damasos grinste hämisch. »Er sieht trotz seiner zweiundzwanzig Sommer noch immer aus wie ein Milchknabe. Kein Wunder, dass seine Eltern so früh starben. Gewiss waren sie ebenso schwächlich.«
»Damasos«, sagte Nerea mit einer Warnung in der Stimme, »Lysandros kann nichts für seine dürre Statur. Nicht jeder kann so muskulös sein wie du. Dafür hat Lysandros ein hübsches Gesicht.«
Lysandra wusste allzu gut, warum Nerea sie verteidigte. Sie wollte verhindern, dass die Wahrheit herauskam, die von Jahr zu Jahr offensichtlicher wurde. Nicht die Spur eines Bartes wuchs Lysandra, die sich hin und wieder mit etwas Asche den Anschein eines Bartschattens gab. Danach vermied sie jedoch, dass man ihr allzu nahe kam, sodass der Schwindel nicht aufflog. Mit lockeren Gewändern, die selbst im Sommer aus dicken Stoffen bestanden, verbarg sie ihre femininen Formen.
»Ein weibisches Gesicht hat er ohne einen Flaum! Er war doch schon immer dein Lieblingssohn. Doch denke daran, dass ich dein leiblicher Sohn bin! Macht doch, was ihr wollt!« Damasos nahm seinen Becher und trank einen tiefen Zug verdünnten Weines. Ein Teil davon rann in seinen Bart. Dann erhob er sich und baute sich zu seiner vollen Größe auf. Er überragte Lysandra um einen Kopf und war deutlich muskulöser als sie. Er starrte sie von oben herab an. Wortlos warf er mit einer hochmütigen Geste sein gewelltes Haar zurück und stolzierte aus dem Raum, ohne Lysandra eines weiteren Blickes zu würdigen.
Als er weg war, kam Nerea zu ihr. Ihre Ziehmutter war – im Gegensatz zu ihrem leiblichen Sohn – von kleiner, korpulenter Gestalt. Die Statur musste Damasos also von seinem Vater geerbt haben, den Lysandra nie kennengelernt hatte, was sie nicht bedauerte. Bisher hatte sie aus verschiedenen Quellen nur Schlechtes über ihn gehört.
Nerea stampfte wütend mit dem Fuß auf den Boden. »Das wirst du nie wieder tun, hörst du? Du wirst dich weder mit Magiern noch mit Barbaren herumtreiben. Mit gar keinen Männern! Und denke ja nicht, mir sei das Gerücht nicht zu Ohren gekommen, dass du den Drachen hättest töten wollen. Das glaubt dir doch ohnehin niemand, so feige, wie du bist. Ich weiß, dass du nicht dort oben warst, aber ich möchte auch nicht, dass du weiterhin solche Lügen verbreitest, die meiner Familie schaden können.«
»Deiner Familie? Dann ist es gar nicht meine?«
»Du weißt, dass es auch deine ist. Du selbst hast keine mehr. Sind ja alle tot. Also musst du dich an unsere Gebote halten und die heißen: Bringe dich nicht in Gefahr und tu, was ich dir sage!«
»Warum sollte ich immer nur tun, was du mir vorschreibst?«, fragte Lysandra.
»Weil ich älter bin und besser weiß, was gut für dich ist oder nicht.«
Lysandra seufzte. »Was gut für mich ist? Du meinst, was deinem eigenen Vorteil dient? Mir die Zukunft zu nehmen und jede Hoffnung auf einen Mann, der mich liebt, und eine eigene Familie zu zerstören, um dir selbst die Abhängigkeit von einem Mann zu ersparen.«
Nerea erblasste. Sie öffnete den Mund und starrte sie an. Doch bald fing sie sich wieder. »Genau so ist es. Tust du nicht, was ich dir sage, fliegt alles auf. Natürlich wird es einen Skandal geben. Und rate mal, wer von uns den größeren Preis dafür zahlen wird? Ich hätte dich auch aussetzen können damals, wie es so vielen Mädchen ergeht. Die werden in die Prostitution verkauft. Du solltest mir dankbar sein, denn ohne mich würdest du nicht mehr leben!«
»Warum hast du mich nicht ausgesetzt?«
Tränen, die so falsch waren, wie sie echt aussahen, rannen über Nereas Wangen. »Weil ich es deiner Mutter Phoebe am Totenbett versprochen habe! Und das ist der Dank dafür! Ich habe Phoebe geliebt. Darum habe ich dies alles für dich getan. Denke nur an die Freiheiten, die du hast, obwohl sie uns Frauen verboten sind. Niemals musst du wie ich damals nach der Heirat mit Damasos’ Vater unter der Grausamkeit eines Mannes leiden. Er hat mich geschlagen und hatte mehr als drei Huren. Häufig hat er nach ihnen gerochen, als
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