Der Kuss des Greifen
Tatzen.
Von Tag zu Tag wuchsen seine Gefühle für Lysandra. Sie liebten sich mittlerweile fast jede Nacht. Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft keimte in ihm auf, doch wuchs sie nicht so schnell, wie sie könnte, da Lysandra zurück nach Delphoí musste, der Stadt, die er niemals wieder betreten wollte. Noch immer trachtete man ihm dort nach dem Leben. Ebenso wie es einige hier auf dem Schiff taten. Die Männer trauten sich nur nicht an ihn heran, aus Angst, er würde das Schiff vernichten. Glücklicherweise gab es auch andere, die sich durch seine Anwesenheit beruhigt fühlten. Dennoch musste er wachsam sein.
Seine feinen Ohren vernahmen ihre geflüsterten Gespräche, das heimliche Tuscheln, das jedes Mal verklang, wenn er in ihre Nähe geriet. Hiram war einer derjenigen, die nicht schlecht über andere redeten. Ebenso wenig verbreitete er die Gerüchte anderer, was ihn in Cels Ansehen immer höher steigen ließ.
Als der Abend kam, zogen sich die Männer noch weiter vor ihm zurück. Wenn die Umwandlung kurz bevorstand, wollte niemand seine Schmerzensschreie hören, niemand außer Lysandra, die ihn mit einer Decke, Essen und ihrer Wärme erwartete. Mittlerweile war er sich sicher, dass sie mehr für ihn empfand als reine Lust. Doch hielt sie etwas vor ihm zurück. Offenbar wehrte sie sich noch immer gegen tiefere Gefühle für ihn, da er ein Boier und somit der Feind ihres Volkes war. Er hoffte auf den Tag, an dem sie sich ihm endgültig öffnen würde.
Cel betrachtete den Sonnenuntergang. Je dunkler der Himmel wurde, desto mehr nahmen seine Schmerzen zu. Erst war es nur ein Ziehen, das sich jedoch bald zu Krämpfen auswuchs. Seine Flügel zitterten, sein Leib bebte.
Als erstes schrumpften die Federn und das Fell und zogen sich in seine Haut zurück. Sein Schnabel wurde kleiner und verschwand. Auch die Krallen wurden kürzer, während seine Finger wuchsen. Auch im Inneren seines Leibes ging eine Wandlung vonstatten. Einiges dehnte und verformte sich, während anderes schrumpfte und verschwand.
Cel hatte immer gehofft, sich an diese Qualen gewöhnen zu können, doch war es ihm jeden Morgen und Abend so, als würde er sie das erste Mal erleben, so durchdringend war der Schmerz. Schlimmer als dieser war das Gefühl der Hilflosigkeit, das glücklicherweise nur kurz währte. Andererseits war der Vorgang weitaus kürzer, wenn man sich nicht dagegen wehrte, wie er es am Anfang getan hatte, was nur das Leiden verschlimmerte.
Mit dem letzten Schimmer des Sonnenlichts waren auch die Schmerzen gegangen. Nur eine dumpfe Erinnerung blieb zurück in seinen Muskeln, würde jedoch bald verschwinden. Er streckte den neu gewonnenen Menschenkörper, strich sich über die junge Haut und warf sein Haar zurück. Es reichte ihm mittlerweile beinahe bis zur Hüfte und wuchs mit erstaunlicher Geschwindigkeit.
Sirona strich um seine Beine. Er beugte sich zu ihr hinab, um ihr feines weißes Katzenfell zu streicheln. Sie hatte es zwar nur einmal zu ihm gesagt und danach nie wieder, doch wusste er, wie viel sie dafür geben würde, die schmerzvolle Verwandlung mitzumachen, anstatt immer nur im Katzenleib gefangen zu sein.
Lysandra reichte ihm eine Decke, die er dankend entgegennahm und sich um die Hüften wickelte. Glücklicherweise sah er kein Mitleid in Lysandras Blick, sondern eine Mischung verschiedener anderer Gefühle: Verwirrung, Trauer und Zärtlichkeit, vielleicht sogar Liebe …
Endlich kam Belerions zerklüftete Küste in Sichtweite. Die Nachmittagssonne ließ das Wasser glitzern und verlieh dem Land einen unwirklichen Schein. Der Wind ließ bereits den kühlen Atem des Herbstes erahnen und brachte den Duft nach Salzwasser, Muscheln und Seetang mit sich.
Lysandra blinzelte. Sie konnte es noch immer nicht glauben, nach so langer Zeit auf See endlich wieder Land zu sehen. Früh mit dem Plätschern der Wellen aufzuwachen und abends damit einzuschlafen, tagein, tagaus nichts anderes zu sehen als Wasser, war anfangs faszinierend gewesen, doch später furchteinflößend, denn wusste sie nun um seine Gewalt und unberechenbare Natur.
Hiram runzelte angestrengt die Stirn. »Ich weiß nicht, wie tief hier das Wasser ist. Keineswegs will ich auf Grund laufen.«
»Keine Sorge«, sagte Belzzasar und wies ihm den Weg, vorbei an den Klippen und steinigen Felsen. Bald erreichten sie eine natürliche Bucht, in der auch andere Schiffe bereits lagen. Strohgedeckte Häuser drängten sich dicht an die Hügel. Männer mit hochstehenden
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