Der Kuss des Greifen
zum Ende des Landes, einem Ort, wo Land und See, Stein und Nebel, und Hoffnung und Verzweiflung aufeinandertrafen. Lysandra war bang ums Herz. Konnte sie Cels Erwartungen erfüllen oder war sie selbst eine enttäuschende Hoffnung? Das Grün der Wiesen war zu erahnen, gesprenkelt vom Heidekraut und bunten Herbstblumen. Nachtvögel sangen und zogen endlose Bahnen über den von zerrupften Wolken bedeckten Nachthimmel. Glücklicherweise schien der Mond hell, sodass sie eine gute Sicht hatten.
Grillen zirpten, Eidechsen huschten davon und graue Seehunde stürzten sich in die unruhige Meeresflut, als Lysandra, Cel, Aiolos, Sirona, Mylentun und Aelfthryd sich dem westlichen Ende Belerions näherten. Es war ein faszinierendes Land, geheimnisvoll und betörend schön. Der Herbstwind peitschte die Gräser, die Zweige der Haselnusssträucher, der Apfelbäume, der wilden Rosenbüsche und des Stechginsters. Ihm neigten sich die Hecken und die blauvioletten Blüten der Glockenblumen und des Heidekrauts. Er zog an Lysandras Gewand und blies ihr das Haar ins Gesicht, sodass sie sich vornahm, es künftig ebenso wie Aelfthryd zu einem Zopf zu winden. Mittlerweile reichte es ihr bis über die Hälfte des Rückens. Die Locken hatten sich ein wenig zu dicken Wellen ausgehangen.
Mylentuns Igelfrisur konnte der Wind hingegen kaum etwas anhaben. Sie hatten Aelfthryd und Mylentun in ihre Pläne eingeweiht. Adalars Neffe trug die Vorräte, die sie für die Reise in die Unterwelt brauchen würden.
»Ihr habt gut gewählt mit diesem edlen Tier als Gefährtin«, sagte Aelfthryd mit einem Blick zu Sirona. »Katzen können in die Geisterwelt sehen und in ihr wirken.«
»Hoffen wir es«, sagte Lysandra leise, die wusste, dass von den Geschwistern nur Cel Geister sehen konnte. Sirona hatte diese Fähigkeit trotz der Katzengestalt seltsamerweise nicht, egal, was die angehende Druidin auch glauben mochte.
Das Meer toste windgepeitscht gegen die Klippen, dennoch war es hier wärmer als an der Küste des Festlandes. Im Norden erblickte Lysandra aus der Ferne eine Befestigung von vielen aufeinandergeschichteten Steinen.
»Was ist das für ein Steingebäude dort drüben auf der Klippe?«, fragte Lysandra Aelfthryd.
»Maen Castle. Es dient der Abwehr von Angriffen.«
»Darf ich es mir mal ansehen?«
»Das kann ich nicht entscheiden. Richte deinen Geist lieber auf die Aufgabe, die vor dir liegt«, sagte die angehende Druidin.
»Wie sieht der Plan aus?«, fragte Lysandra, als sie den westlichsten Teil des Landes endlich erreicht hatten.
Cel hob eine Augenbraue. »Welcher Plan?«
»Na, wie ich dieses Tor in die Unterwelt öffnen soll.«
»Ich dachte, das wüsstest du. Die Pythia sagte, du wärst dazu in der Lage.«
Aelfthryd hob eine gebogene Augenbraue, sagte jedoch nichts. Stattdessen strich sie eine Falte ihres Wollkleides glatt. Der blonde, hochgewachsene Mylentun sah weg, als wollte er Lysandras drohende Niederlage nicht sehen.
»Das hatte ich befürchtet.« Lysandra seufzte. Cel hatte also keinen Plan und keinerlei Vorstellung davon, was sie zu tun hatte. Ebenso wenig wie sie. Woher sollte sie es auch wissen? Bis vor Kurzem hatte sie noch nicht mal gewusst, dass sie angeblich die Fähigkeit besaß, die Tore der Unterwelt zu öffnen.
»Ein Nebel verbindet diese Welt und die andere«, sagte Aelfthryd. »Ihr müsst ihn heraufbeschwören und durchschreiten. Womöglich kann die Katze Euer Führer sein. Allerdings ist sie weiß und gerät somit leicht aus dem Sichtfeld, eine schwarze oder rote Katze wäre besser gewesen.«
»Wir könnten sie färben. Meine Mutter hat noch rote Pflanzenfarbe«, sagte Mylentun.
Sirona warf ihm einen beleidigten Blick zu, bevor sie sich mit erhobener Nase umwandte.
»Nein, das ist zu dauerhaft. Hm, Asche wäre vielleicht besser. Die bekommt man wieder heraus«, sagte Cel. Könnten Blicke töten, so wäre er durch Sironas Blick soeben zu Staub zerfallen.
»Setze dich hin, Lysandros, und lass deinen Geist frei werden von allen Gedanken. Sieh zum Meer und werde eins mit den Wellen«, sagte Aelfthryd langsam. Cel übersetzte es ihr wie auch die Worte zuvor.
Lysandra ließ sich im feuchten Gras nieder. Es roch nach Heidekraut und Erika. Sie starrte hinaus auf die Wellen, bis ihr Geist ruhiger wurde. Wind kam vom Meer auf und brachte den Duft nach Salzwasser mit sich. Er spielte mit Lysandras Locken, die ihren Hals kitzelten, doch war sie froh um die Kühle, die er ihrer erhitzten Haut zukommen ließ. Ihre Hände
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