Der Kuss des Greifen
ganz sicher.«
»Neugierde war schon so manches Menschen Tod«, sagte Sirona.
»Und ihre Abwesenheit der Tod ebenso vieler!« Lächelnd trat Aiolos näher. »Ich müsste ein Narr sein, mir diese im Leben einmalige Gelegenheit entgehen zu lassen. Großes Wissen liegt verborgen in den Tiefen der Erde und den Abgründen der Unterwelt.«
»Ebenso der Tod und die Ewigkeit in Düsternis und Schatten. Des Menschen Seele ist nicht mehr als ein Hauch, sein Selbst verblasst in grauer Monotonie«, sagte Cel.
Aiolos lachte. »Du lernst schnell, Keltoi, und du weißt viel über die Mythen der Hellenen.«
»Notgedrungen. Unwissenheit wäre manchmal eine Gnade.«
»Ich brauche Stille«, sagte Lysandra. Sie trat noch einige Schritte weiter in die Dunkelheit, bis ihr Gesicht völlig im Schatten lag. Es roch hier jedoch wider Erwarten nicht muffig, obwohl die Luft feucht war. Es duftete nach Moosen, Flechten und dem Meer, das sich unweit von ihnen unten am Riff in sprühender Gischt brach.
Obwohl das Schlagen der Wellen laut war, störte es Lysandra nicht, sondern bestärkte sie in ihrer Konzentration. Cel und Aiolos waren ebenfalls in die Höhle gekommen. Sie standen schweigend in der Nähe des Ausgangs, dennoch spürte sie keine erwartungsvollen Blicke auf sich. Sirona befand sich vor ihr in der Dunkelheit. Wäre sie nicht schneeweiß, so hätten die Schatten sie längst verschlungen.
Lysandra wandte ihr Gesicht der Dunkelheit zu. Ein Instinkt trieb sie dazu, ihre Augen halb zu schließen. Tief sog sie die feuchte Luft ein.
Plötzlich wurde es noch kühler und dunkler. Der Nebel kam langsam und verdichtete sich immer mehr. Seine feuchtkalten Finger berührten Lysandras Gesicht, wogten in feinen Schlieren um ihren Leib und sponnen sie ein.
»Folgt mir!«, sagte sie, da sie das Gefühl hatte, dass der richtige Moment gekommen war.
Sie vernahm die Schritte der Männer hinter sich. Die Katze bewegte sich nahezu lautlos und war nur als heller Schemen sichtbar. Bald hüllte der Nebel sie alle ein.
»Er kommt mir lebendig vor«, sagte Aiolos.
Lysandra hatte denselben Eindruck, wollte aber dennoch nicht sprechen, denn der Zauber des Augenblicks hielt sie umfangen. So etwas hatte sie niemals zuvor in ihrem Leben erfahren. Langsam durchschritt sie den immer dichter werdenden Nebel. Bald sah sie ihre Hand nicht mehr vor den Augen. Vernähme sie nicht die Schritte hinter sich, würde sie befürchten, allein zu sein. Ein Gefühl der Beklommenheit beschlich sie.
Dann kam der Fall. Es war, als würde sie ins Nichts stürzen, in einen bodenlosen Abgrund, obwohl sie noch immer unverändert den kalten Stein unter ihren Füßen spürte. Der Augenblick währte nur kurz. Endlich sah Lysandra Licht, kein helles Sonnenlicht, sondern diffuses Zwielicht. Da sie weiterhin die Schritte hinter sich vernahm, wandte sie sich nicht um, sondern lief dem Licht entgegen. Sie erreichte den Ausgang der Höhle.
Schwarze Pappeln und alte Weiden wiegten sich in einem Wind, der aus keiner Richtung zu kommen schien und auch keine richtige Kraft hatte. Er drehte sich mal hierhin und mal dorthin. Dennoch war er stark genug, um die Samen von den Weiden zu lösen und über den Boden zu verstreuen.
Der Himmel war von undefinierbarer Farbe. Weder war es sonnig noch düster, am ehesten konnte Lysandra es mit dem Wort »diffus« beschreiben. Unklar. Verschwommen. Unwirklich.
»Das muss Persephones Grotte gewesen sein, durch die wir diese Welt betreten haben«, sagte Aiolos, der von ihnen allen am meisten über diese Dinge wusste.
Vor ihnen erstreckte sich ein Wald aus Weiden, Erlen und vom Winde gebeugten Pappeln. Ein steinerner Pfad wand sich durch die Wildnis. Sirona ging voran, als hätte sie es eilig, ihrer Katzengestalt zu entfliehen. Trotz ihrer felinen Schönheit würde es für sie gewiss wie ein neues Leben sein, endlich ihren menschlichen Leib zurückzuerlangen.
Der Herbst war hier weiter vorangeschritten als auf der anderen Seite von Persephones Grotte. Der Boden wirkte trockener. Bis auf das Rauschen des Windes und dem fernen Tosen eines Gewässers war es still hier. Kein Vogel sang, kein Tier regte sich.
Doch erkannte Lysandra in der Ferne menschenähnliche Gestalten, die seltsam blass, blutleer und durchscheinend wirkten. Auf ihren Gesichtern zeigten sich Verzweiflung und Resignation.
»Dies«, sagte Aiolos, »sind die Seelen derer, die nicht begraben wurden oder die den Fährmann nicht bezahlen konnten.«
Eine erschreckende Vorstellung.
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