Der Kuss des Greifen
getrennt waren. In einer ruhten einige Ruderer der Tanith und in der anderen schliefen Hiram; Hamilkar und Belzzasar. Der Rest der Mannschaft war auf einige andere Langhäuser verteilt.
Lysandra gefiel es nicht, dass sie den Winter hier verbringen mussten. Andererseits hatte sie dadurch Zeit, sodass Cel und Sirona sie keineswegs unter Druck setzen mussten, die Pforte ins Jenseits zu öffnen. Sie erhob sich und hockte sich vors Feuer. Dort biss in ein Stück Gerstenbrot und schluckte es mit etwas Weizenbier herunter, das leicht nach Honig schmeckte. Sie sah den Rauchschwaden nach, die mit langen Geisterfingern gen Decke zogen.
Unterhalb des Giebels gab es zwei kleine Oberlichte, die auch dem Rauchabzug dienten. Das hierdurch hineinfallende Mondlicht genügte ihr, um sich orientieren zu können. Sie legte einige kleine Buchenscheite nach und beobachtete, wie die Flammen sie umzüngelten und schließlich ergriffen, um sie zu Asche zu verwandeln. So vergänglich war alles, wie dieses Holz.
Sie fröstelte, obwohl es nicht kalt war. Sie blickte hinüber zu ihren Zimmergenossen. Während Aiolos sich die Decke über den Kopf gezogen hatte, ergoss sich Cels Haar silbernschimmernd über die Strohmatratze. Sein Gesicht war ihr abgewandt, doch sah sie einen Teil seines muskulösen Rückens, seiner Schultern und einen Arm. Der Widerschein des Feuers überzog seine Haut mit einem goldenen Ton.
Lysandra wandte ihren Blick ab. Die Einrichtung war auf das Notwendigste beschränkt. Es gab getrennte Wohnbereiche zum Kochen, Essen und Schlafen. Die Feuerstelle lag unweit von den Schlafplätzen. Sie war umgeben von Steinen zum Zwecke des Brandschutzes und kleinen Holzblöcken, die als Hocker dienten. Eine Tierhaut war oberhalb der Feuerstelle unter den Dachbereich gespannt, um die Funken abzufangen. Dennoch bestand kaum ein Risiko, dass das mit Stroh, Rinde und Holzschindeln gedeckte Dach abbrennen würde, denn es regnete hier weitaus häufiger als in Delphoí. In einer Nische standen Küchenutensilien und Vorräte bereit.
Ihre Reservekleidung und Celtillos’ Halsreifen hatte Lysandra mit Cels Einvernehmen nahe der Stelle, wo sie sich auf der Grasfläche geliebt hatten, vergraben, bevor sie das ihnen geliehene Haus aufsuchten.
Es war eine einfache Hütte – Lysandra hatte größere und schönere hier gesehen –, aber sie war komfortabel und keineswegs schlechter als das Haus ihrer Ziehmutter in Delphoí, nur eben anders und ungewohnt. Auch das Brot war nicht schlechter. Gewöhnungsbedürftig waren für sie die Breie aus Bohnen, Getreide, Kräutern und sonstigen undefinierbaren Zutaten, doch waren sie genießbar und sättigten schnell.
Lysandra starrte wieder ins Feuer, da ergriff eine seltsame Ruhe ihren Geist. Sie spürte, wie ihre Kräfte sich sammelten. Es war Vollmond. In diesen Nächten war sie immer unruhiger als sonst. Womöglich machte er ihr an diesem Ort mehr zu schaffen als in Delphoí. Es musste am Wetter liegen oder an der Nähe zum Meer.
Womöglich gelang es ihr heute Nacht, das Jenseitsportal zu öffnen, wenn sie sich möglichst unbeobachtet wähnte. Die Zuschauer waren es gewesen, die ihre Aufmerksamkeit zerstreuten. Sie würde es versuchen. Das Schlimmste, was geschehen konnte, war, erneut zu versagen. Wo war in den vergangenen Nächten ihr alter Kampfgeist geblieben? Sie, die allein einem Drachen gegenübergetreten war!
Diese Nacht sollte es sein, das wusste sie plötzlich. Sie erhob sich und wandte ihre Schritte in Celtillos’ Richtung. Lysandra beugte sich zu ihm hinab und berührte zögerlich seine Schulter. Sie fühlte sich kühl und unsagbar weich an. Wie herrlich er duftete, nach Kräutern, Leder und Mann. Leise sprach sie zu ihm, da sie nicht wollte, dass Aiolos ebenfalls erwachte. Cel drehte sich zu ihr um und öffnete die Augen. Sekundenlang starrte er sie an.
Schließlich runzelte er die Stirn. »Ein Angriff?«
»Nein. Ich werde heute Nacht versuchen, das Tor ins Jenseits zu öffnen.«
»Ein nächtlicher Überraschungsvorstoß, welch guter Einfall. Womöglich schlafen dann noch alle dort drüben.«
Lysandra schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, ob die im Totenreich überhaupt ruhen. Ich glaube nur, dass ich es diesmal schaffen kann.«
»Allzu siegesgewiss hörst du dich nicht an. Schlachten wurden verloren, weil man nicht an den Sieg glaubte.«
»Hybris hat dasselbe bewirkt. Man muss wohl den Mittelweg finden.«
»Wohl wahr, doch darum geht es heute nicht. Gehen wir, bevor Aiolos oder
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