Der Kuss des Greifen
taubenetzte Gras. Meeresduft drang zu ihnen herüber, getragen vom Nachtwind. Bald sahen sie die Umrisse der bedrohlich wirkenden Granitfelsen. Schäumend zerbarsten die Wellen an den Klippen und entließen einzelne Gischtfontänen. Vereinzelt ragten Felsen aus dem Wasser, zerklüftet zu eigentümlichen Formationen im Laufe der Jahrtausende.
Wild und unvergänglich war die raue Schönheit dieser Landschaft, unbezähmt und unberechenbar das Meer. Lysandra fühlte sich bezwungen von der Schwere der Zeit, die hier in einem anderen Rhythmus zu vergehen schien. Ein Teil der Vergangenheit war hier präsent und die Zukunft ließ sich erahnen. Diese Küste würde immer bestehen im ewigen Tanz mit Wind und Wellen.
»Wusstet ihr, dass es hier Höhlen gibt?«, fragte Sirona. »Ich habe einige davon erforscht.«
Cel sah sie streng an. »Ich habe dir doch gesagt, dass du nicht allein so weit fortgehen sollst.«
Lysandra legte ihm beschwichtigend ihre Hand auf den Arm. »Sprach die Pythia nicht von Höhlen?«
Er schüttelte den Kopf. »Nicht, dass ich wüsste.«
»Wie komme ich dann auf Höhlen?« Sie grübelte und grübelte. Endlich erinnerte sie sich. »Es war in den Erzählungen der Alten, als wir in Delphoí vor den Feuerstellen saßen. Sie sagten, die Tore zur Unterwelt seien in Höhlen zu finden.«
»Möglich«, sagte er. »Ob sich jedoch alle von Menschen öffnen lassen, ist allerdings unklar. Schon gar nicht von den meisten Menschen.«
»Führe uns zu den Höhlen. Ich will es darin versuchen«, sagte Lysandra zu Sirona.
Die Katze lief voran, sah sich jedoch immer wieder um, ob sie ihr folgten. Augentrost und Erika ragten zwischen Grasbüscheln und Flechten empor. Cel, Lysandra und Sirona kletterten über die zerklüfteten Granitfelsen. Das Tosen des Meeres wurde immer lauter. Der Wind zog an Lysandras Haar und ihrem Gewand. Sie bereute es, sich keinen Zopf gebunden zu haben. Die Vegetation wurde immer kärglicher, je näher sie dem Meer kamen. Nur das blassviolette Heidekraut schien überall zu wachsen.
Die Felsen wurden glitschig. Wohl brachte der Wind die Feuchtigkeit mit sich. Mühsam kletterte Lysandra ihren Gefährten nach. In der Ferne glaubte sie, ein paar Schafe blöken zu hören, dann vernahm sie nur noch das Rauschen der Wellen und die Geräusche, als diese sich an den Klippen brachen.
»Wir sind dem Irrsinn verfallen«, sagte Lysandra aufgrund der sich verschlechternden Sichtverhältnisse. Beinahe wäre sie ausgeglitten auf dem Felsen und in die Tiefe gestürzt. Wie tief es von hier aus war, wusste sie gar nicht. Sie hoffte, dass Sironas Orientierungssinn sie nicht im Stich lassen würde.
»Wir sind gleich da«, sagte Sirona. »Dies ist eine besondere Höhle. Sie ist irgendwie anders, doch fragt mich nicht, warum.«
Lysandra hielt inne, um zu Atem zu kommen und noch einmal hinauszusehen aufs Meer, dessen Wellen vom Mondlicht silbrig übergossen wurden. Als sie ihren Blick zu Sirona wandte, die bereits im Höhleneingang stand, erkannte sie hinter ihr nur Schwärze. Undurchdringlich und geheimnisvoll.
»Wir hätten eine Lampe oder eine Fackel mitnehmen sollen«, sagte sie.
»Ob diese im Wind nicht verloschen wäre?«, fragte Sirona.
Lysandra wusste es nicht, doch eine gewisse Wahrscheinlichkeit bestand, dass Sirona recht hatte. Sie trat auf Sirona zu. Wie tief mussten sie in diese Höhle hinein, um das Tor zur Unterwelt zu finden? Sofern dieses sich überhaupt hier befand.
Plötzlich rollten kleine Kiesel in der Nähe des Höhlenausgangs vorbei. Sie vernahm leise Schritte.
»Was machst du hier?«, fragte Cel.
»Das lasse ich mir doch nicht entgehen«, vernahm sie Aiolos’ Stimme. Lysandra schnaubte. Da machten sie sich mitten in der Nacht auf eine halsbrecherische Reise, um möglichst wenige Zeugen um sich zu scharen und wurden dennoch verfolgt. Wie viel hatte der Seher mitbekommen von ihren Gesprächen mit Cel und ihren … Küssen?
Glücklicherweise war es nicht zu mehr gekommen als Küssen. Wohl auch nur dank Sironas Anwesenheit. Wäre sie jedoch später gekommen, wäre auch mehr möglich gewesen.
»Was denkt ihr, warum ich diese für mich beschwerliche Reise durch die halbe Welt auf mich genommen habe? Ich hätte in Karthago von Bord gehen können oder in Hippo, wo eine Großtante von mir wohnt.«
»Warum hast du es dann nicht getan?«, fragte Sirona.
»Weil ich mit in die Unterwelt will.«
Cel schüttelte den Kopf. »Du musst des Wahnsinns sein.«
»Das vielleicht, doch wissbegierig
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