Der Kuss des Greifen
einer der anderen aufwacht. Ich brauche niemanden von ihnen dazu. Sie wären uns nur im Weg. Wo ist Sirona?«
Lysandra hob die Achseln. »Weiß ich nicht.«
»Ohne sie gehe ich nicht. Sie muss mit dabei sein.« Cel schien um sie besorgt zu sein.
»Wir werden sie finden.«
Er hob eine Augenbraue. »Jetzt nachts?«
Lysandra antwortete nicht, sondern öffnete die Tür. Ein Streifen Mondlicht fiel ins Haus. Sie trat hinaus. Tiefe Schatten lagen unter den Bäumen. Der Duft nach frischer Erde und Heu wehte ihr mit dem kühlen Wind entgegen. Nebel wogte um die Häuser, eine feuchte Spur auf ihrer Haut hinterlassend. Mit gedämpfter Stimme rief sie Sironas Namen.
Cel kam hinter ihr aus dem Haus. Er trug das Bündel mit den Nahrungsmitteln, das er mit in die Unterwelt zu nehmen gedachte. Wobei Lysandra das Essen für ihr geringstes Problem hielt, sollten sie diesen Ort der Düsternis je erreichen – und lebend daraus zurückkehren.
Leise schloss Cel die Tür. Sirona erschien so plötzlich aus dem wogenden Nebel, dass Lysandra erschrak.
»Schleiche dich nicht so an. Du hast mich ganz schön erschreckt.«
Sirona schnaubte. »Wenn du so schreckhaft bist, dann bist du vielleicht nicht die Richtige für diese Aufgabe.«
»Ihr habt niemand anderen gefunden, der irrsinnig genug ist, um euch bei diesem Selbstmordkommando zu helfen. Also beschwert euch nicht.« Sie verstand Sironas Anspannung, dennoch würde sie nicht so mit sich reden lassen.
»Das hätten wir vielleicht, doch du hast recht: Uns läuft die Zeit davon. Außerdem ist es nicht Selbstmord. Dies wäre es, würden wir es nicht tun. Du weißt ja selbst, wie viele Menschen Cel in Delphoí nach dem Leben getrachtet haben. Eines Tages hätten sie womöglich Erfolg gehabt.« Sironas Blick zeigte Verdrossenheit.
»Schon gut. Ich bin freiwillig hier. Anders hättet ihr mich auch nicht bekommen. Außerdem hast du recht damit, dass sie ihn eines Tages getötet hätten.«
»Lasst uns gehen. Mit Reden allein hat noch keiner etwas erreicht«, sagte Cel. Sein Oberleib war nackt. Er hatte nur Beinkleider angezogen und seine ledernen Schuhe. Die restliche Kleidung vermutete Lysandra in seinem Bündel. Seine Muskeln waren deutlich sichtbar unter der im Mondlicht schimmernden Haut. Wie glatt sie war. Lysandra widerstand nur mit Mühe der Versuchung, ihre Hände über seinen Leib gleiten zu lassen, ihn überall zu berühren, die feuchte Hitze seines Mundes zu kosten und ihre Finger in sein weiches Haar zu vergraben.
Als hätte er ihre Gedanken erahnt, beugte er sich zu ihr vor und presste seine Lippen hart auf die ihren. »Ich möchte dich noch einmal küssen.« Sein Atem liebkoste ihren Mund. Sie wusste um die unausgesprochenen Worte, die dahinter lagen: Ich möchte dich küssen, falls wir diese Nacht nicht überleben. Damit ich dich noch ein letztes Mal gespürt habe.
Er umfasste ihr Gesicht mit beiden Händen und vertiefte seinen Kuss.
»Sirona«, sagte Lysandra, als er sie wieder zu Atem kommen ließ.
»Sie wird es verstehen.« Erneut küsste er sie. Seine Zunge umspielte ihre Lippen und schob sich zwischen sie. Seine feuchte, männliche Hitze ließ sie erbeben. Tief sog sie seinen Duft ein, diese herbe Mischung aus Leder, Gräsern und Mann. Seine Brustmuskulatur fühlte sich hart an unter ihren Händen. Sie streichelte seine Haut, woraufhin er erbebte. Leise sprach er ihren Namen, flüsterte Zärtlichkeiten in jener fremden Sprache in ihr Ohr. Allein am Tonfall erkannte sie den Inhalt.
»Lasst uns gehen«, sagte Lysandra, das unbestimmte Gefühl drohender Gefahr von sich weisend. Es würde sie nicht weiterbringen, sich von ihrer Aufgabe einschüchtern zu lassen. Es waren bereits vor ihnen Menschen aus dem Jenseits zurückgekehrt. Manche davon hatten sogar noch gelebt.
Cel nickte. Seine Lippen waren geschwollen von ihren Küssen und seine Augen wirkten dunkler als sonst, verhangen vor Leidenschaft. Sirona hockte neben ihnen, ihr Gesicht war halb abgewandt. Wie mochte sie sich fühlen, dies nie mehr zu erleben? War sie überhaupt jemals geküsst worden? Musste sie sterben, ohne die Liebe und Zärtlichkeiten eines Mannes erleben zu dürfen?
Ein Klumpen bildete sich in Lysandras Hals, den sie auch durch mehrmaliges Schlucken nicht loswurde.
»Ja, lasst uns gehen«, wiederholte Cel ihre Worte. Sie machten sich auf durch die finstere Nacht in eine noch dunklere Zukunft. Sirona war wie ein Lichtfleck, den der Nebel beinahe verschluckte. Sie sprang durch das hohe,
Weitere Kostenlose Bücher