Der Kuss des Jägers
noch
durcheinander und ich kann dich mit diesen unfähigen Polizisten nicht allein
lassen. Die sollten sich endlich um die Verbrecher kümmern, anstatt dich zu
behelligen. Ich hab diesen Gonod heute wieder angerufen und nachgehakt, aber
natürlich sind sie keinen Schritt weiter.« Sie schüttelte den Kopf und
verdrehte die Augen.
Sophie konnte sich ein Grinsen kaum verkneifen. Schon damit Madame
Guimard Gonods Gutmütigkeit nicht länger strapazierte, musste sie sie davon
überzeugen, endlich in die Ferien zu fahren. »Ich glaube, seit der Entführung
ist der Commissaire nun doch auf meiner Seite. Und bestimmt gibt es bald
wichtigere Fälle, dann wird sich kaum noch jemand für mich interessieren.«
»Da sei dir mal nicht so sicher. Wenn sich ein Mann wie dieser
Gournay an etwas festgebissen hat, lässt er so schnell nicht mehr locker.«
»Geben Sie zu, Sie wollen mich nur nicht unbeaufsichtigt den Laden
einrichten lassen«, versuchte sie, das Thema zu wechseln.
»Ha! Was glaubst du? Ich werde meine Spione zweimal täglich
vorbeischauen lassen, damit sie mir berichten, was du dort anstellst.« Wie
schaffte es Madame Guimard, stets eine solche Pokermiene aufzusetzen, dass man
nicht wusste, ob sie es ernst meinte?
»Oh, mon dieu! Was soll ich dann bloß mit der Diskokugel machen, die
ich bestellt habe?«
»Die was?«
Ein Piepen ihres Handys enthob Sophie einer Antwort. Wider besseres
Wissen hoffte sie, dass die Nachricht von Jean stammte, doch sie kam von Lara.
Oder war es ein neuer Versuch Kafziels, sie in eine Falle zu locken? Sie würde
morgen Vormittag noch einmal bei Lara anrufen und nachhaken.
»Schlechte Neuigkeiten?«, erkundigte sich Madame Guimard.
»Nein, im Gegenteil.« Sophie schob den Gedanken an den Dämon von
sich und schwenkte triumphierend das Handy. »Lara hat gerade im Internet das
Ticket gekauft. Sie wird morgen Mittag hier sein.«
»Hm.« Madame Guimard neigte zufrieden den Kopf. »Dann werde ich
Aimée anrufen und ihr sagen, dass ich morgen zu ihr komme.« Sie verschwand im
Wohnzimmer, das Sophie mittlerweile selbst in Gedanken ganz französisch salon nannte. Bald drang ihre gedämpfte Stimme durch die
Tür, und Sophie ertappte sich dabei, im Flur auf und ab zu streifen wie eine
Raubkatze im Zoo. Rührte ihre Unruhe von Alex’ Nachricht her, oder war sie
aufgeregt, weil Lara morgen endlich nach Paris kommen wollte? Sie fürchtete, es
könnte mehr dahinterstecken, aber ihr fiel kein plausibler Grund ein. Wie gern
hätte sie mit Jean darüber gesprochen, was sie im Louvre gefunden und was Alex’
Bibelstelle damit zu tun hatte.
Unvermittelt blieb sie stehen. Seit wann sehne
ich mich nicht mehr nach Raphael? Schuldbewusst errötete sie. War sie
nicht schrecklich unfair? Erst war sie ihm so lange nachgelaufen, hatte ihn mit
ihrer Liebe in Verwirrung gestürzt und ihm Vorwürfe gemacht, weil er nicht
genug für sie da sei, und nun dachte sie nur noch an Jean. Raphael liebte sie
so sehr, dass es sein Engeldasein durcheinanderbrachte. Wie konnte ihr das
nicht genug sein? So lange hatte sie darum gefleht, Rafe zurückzubekommen. Dann
machte ihr das Schicksal dieses unglaubliche Geschenk, und sie benahm sich so
undankbar und selbstsüchtig. Die Bisse des schlechten Gewissens taten zu weh,
um länger darüber nachzudenken. Am besten würde sie ganz offen mit ihm darüber
reden und ihn um Verzeihung dafür bitten, dass sie einen anderen geküsst hatte.
Er würde es verstehen. Er war ein Engel und kannte die Schwäche der Menschen.
Vielleicht konnten sie danach noch einmal von vorn beginnen. Eine zärtliche,
vertrauensvolle Liebe, so groß, dass sie ohne Sex und Leidenschaft auskam …
I m unruhigen Licht der
Taschenlampen huschten zahllose Schatten über die sorgfältig aufgeschichteten
Knochen. Wie Brennholz hatte man sie bis unter die Decke des niedrigen Gewölbes
aufgestapelt, ein schaurig-schöner Schein, denn Jean wusste, dass der Rest der
Skelette in einem wirren Haufen hinter dieser Knochenwand lag. Nische für
Nische, Raum für Raum waren die Katakomben mit den Gebeinen der Toten
angefüllt, unseligen Toten, denen keine Ruhe vergönnt gewesen war. Von Seuchen
dahingerafft und auf zu engen Friedhöfen notdürftig verscharrt, hatte ihr
Gestank noch mehr Todesopfer gefordert, bis man sie wieder hervorgewühlt und in
Einzelteilen in diese Massengräber geworfen hatte. Gerüchte über Geister und
den Fluch der so rüde behandelten Toten kursierten unter den Kunden des L’Occultisme ,
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