Der Kuss des Jägers
will keine
Widerrede mehr hören! Madame Guimard will endlich in Urlaub fahren, und das
kann sie erst, wenn sie weiß, dass ich nicht allein hier hocke.«
»Oh.«
»Ja, oh. Du wirst hier gebraucht. Basta!«
»Ja, schon gut. Ich komme. Ich schau gleich, wann ein Zug fährt.«
»Gib mir Bescheid, wann ich dich am Bahnhof abholen soll.«
»Okay.«
»Wirklich?«
»Ja!«
»Gut.« Erneut musste Sophie lachen. »Bis dann.«
»Bis bald.«
Für den Fall, dass Lara doch noch Zuspruch brauchte, wartete sie,
bis ihre Freundin die Verbindung unterbrochen hatte. Erst dann rief sie die
neue Nachricht auf.
»Und ich sah einen Engel herabsteigen (…). Er warf ihn (den Satan)
in den Abgrund, schloss zu und brachte ein Siegel darüber an. Offenbarung 20, 1 – 3 . Alex«
Jean beugte sich über den Rand des gemauerten Brunnens. In
der Tiefe schimmerte ein schwacher Lichtschein, der sich rasch an einen
bestimmten Punkt zurückzog und gänzlich verblasste. Geradeso wie die
heraufdringenden Stimmen mit jeder Sekunde leiser wurden. Der feuchte
Gewölbekeller, an dessen Decke selbst die Spinnweben vermoderten, war nur
spärlich beleuchtet, doch es genügte, um die rostigen Sprossen zu erkennen, die
aus der Wand des Brunnenschachts ragten. Hastig zerrte Jean die Stirnlampe aus
der Jackentasche und zog sie an. Er hatte sie für den Weg zur L’Inconnue gekauft, der Untergrundparty im wahrsten Sinne
des Wortes. Ob er es überhaupt noch dorthin schaffen würde? Aber vielleicht
wäre es bald gar nicht mehr nötig, dort nach Lilyth zu suchen.
Eilends kletterte er die Sprossen hinab, bis er auf der Höhe eines
niedrigen Gangs ankam, der vom Schacht abzweigte. Unter ihm erstreckte sich
Finsternis. Er schaltete die Stirnlampe ein und sah hinab, aber es waren nichts
als Wände zu entdecken, die sich jenseits des Lichtkegels wiederum in Schwärze
auflösten. Das flaue Gefühl unbekannter Tiefen machte sich in seinem Magen
breit. Je länger er auf einem Fleck verharrte, desto mehr drückte sich die
Sprosse, auf der er stand, durch seine Schuhsohlen und das kantige, rostende
Eisen, um das sich seine Finger klammerten, in die Haut. Er leuchtete in den
Gang. Den stellenweise noch sichtbaren Steinboden bedeckte eine Schicht fast
gänzlich getrockneten Schlamms, in dem dünne Absätze Löcher hinterlassen
hatten. Vorsichtig hangelte sich Jean hinüber, um den Spuren zu folgen. Die
Decke war so niedrig, dass er den Kopf einziehen musste. Von Zeit zu Zeit
endeten zu beiden Seiten enge Schächte über ihm, an deren Rändern feuchter Schmutz
in Schlieren herablief. Es roch nach Fäulnis, doch gleichzeitig wirkte die Luft
weniger abgestanden als jene im Keller. Geduckt lief er den Gang entlang, so
schnell es ging. Atem und Schritte hallten so seltsam von den Wänden wider,
dass es klang, als säße ihm ein Verfolger im Nacken. Obwohl er den Effekt von
früheren Expeditionen in den Untergrund kannte, beschlich ihn die urzeitliche
Furcht vor dem Raubtier in seinem Rücken. Der Drang, sich umzudrehen, wurde
übermächtig. War es nicht ohnehin besser, wieder innezuhalten, bevor der Dämon
und seine Gefolgschaft womöglich seine Schritte hörten?
Er ärgerte sich über sich selbst, als er nicht nur stehen blieb,
sondern auch einen Blick über die Schulter warf. Der Schein der Stirnlampe
enthüllte nichts. Natürlich nicht. Über seinen lauten
Herzschlag hinweg ertönten Stimmen. Schnell schaltete er die Lampe aus. Im
ersten Augenblick sah er nichts mehr außer Dunkelheit, doch dann merkte er,
dass der Gang vor ihm heller war als hinter ihm. Behutsam ging er weiter, tastete
sich mit einer Hand an der Wand entlang, die sich kühl, klamm und manchmal
etwas schmierig anfühlte. Die Stimmen, mit ihrem Echo zu einem unverständlichen
Raunen vermischt, entfernten sich von ihm. Wenn er sie nicht verlieren wollte –
und wer konnte wissen, wie viele Abzweigungen es noch geben würde? –, musste er
sich beeilen. Ob Tiévant ihm doch noch folgen würde, sobald die Verstärkung
eintraf? Oder würde er so tun, als habe es ihre Begegnung nie gegeben, um
keinen Ärger zu bekommen? Dann musste er vorschriftsgemäß wieder Position vor
dem Haus beziehen und lediglich erzählen, dass die Verdächtigen hineingegangen
und noch nicht wieder herausgekommen waren.
Mit einem Mal wurde Jean bewusst, dass sich der Widerhall seiner
Schritte verändert hatte. Der Gang endete abrupt vor einem weiteren Schacht,
der in Form und Größe eher einem Treppenhaus als einem Brunnen
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