Der Kuss des Jägers
mit irgendjemandem reden, der eingeweiht war, sonst verlor sie
noch den Verstand. Zu viele Geheimnisse lasteten auf ihrer Seele. Sie spürte,
wie das Gewicht sie innerlich zu Boden zwang.
Es klingelte nur zwei Mal, bevor Alex den Anruf annahm. »Hallo?«
»Salut! Hier ist Sophie.« Plötzlich war sie nicht mehr so sicher,
dass sie keinen Fehler gemacht hatte. »Entschuldige, dass ich so spät noch
störe.«
»Äh, kein Problem. Ich … hab nichts Wichtiges vor.«
»Mhm.« Warum fühlte sie sich auf einmal befangen? In der Ferne
heulten Sirenen. Sicher wieder die Polizei.
»Hast du meine Nachricht bekommen?«
Erleichtert stürzte sie sich auf das sichere Terrain. Wie hatte ihr
der Grund dieses Anrufs entfallen können? »Ja, deshalb wollte ich mit dir sprechen.
Ich bin nicht sicher, was mir dieses Zitat sagen soll. Vielleicht hast du mehr
daraus gelesen als ich.«
Die Sirenen kamen näher.
»Na ja, ich wollte dich auf diese Verse hinweisen, weil sie deine
Theorie stützen, dass es auch um ein Siegel gehen könnte. Eigentlich wird an
dieser Stelle beides erwähnt.«
»Beides?«
»Siegel und Schlüssel.«
»Das verwirrt mich jetzt eher noch mehr.«
Blaulicht flackerte durch die Nacht, spiegelte sich in den
Fensterscheiben. Sie musste sich das andere Ohr zuhalten, um Alex noch zu
verstehen, bis die Sirene vor dem Haus verstummte.
»Am besten lese ich dir die Stelle einfach mal vor, dann siehst du
klarer. Da steht: Und ich sah einen Engel herabsteigen aus dem Himmel, der in
seiner Hand hatte den Schlüssel zum Abgrund und eine große Kette. Er packte den
Drachen, die alte Schlange, die der Teufel und Satan ist, und fesselte ihn auf
tausend Jahre. Er warf ihn in den Abgrund, schloss zu und brachte ein Siegel
darüber an, damit er nicht mehr die Völker verführe, bis vollendet sind die
tausend Jahre. Dann muss er losgelassen werden auf eine kurze Zeit.«
Sophie war zum Fenster gegangen und spähte hinaus. Wenn es die
Polizei war, galt der Besuch hoffentlich nicht ihr. »Ja, aber heißt das nicht,
dass es einen Schlüssel geben muss?«, fragte sie abgelenkt, doch unten auf der
Straße war nicht die B. C. vorgefahren, sondern ein
Krankenwagen. Beruhigt wandte sie sich ab.
»Ich glaube nicht, dass sich diese Stelle auf das Gefängnis der
Wächter bezieht, denn Satan war nicht unter ihnen, und außerdem wären die
tausend Jahre längst abgelaufen«, erklärte Alex. »Es geht mir nur um den
Hinweis, dass ein Siegel vielleicht sogar viel wichtiger ist als der Schlüssel.
Ich meine, warum überhaupt ein Siegel, wenn man abgeschlossen hat? Dafür kann
es doch nur zwei Gründe geben.«
»Weil man merken will, falls sich jemand am Schloss zu schaffen
macht.« Sophie stutzte. »Aber das ergibt wenig Sinn. Wenn der Teufel oder die
Wächter freikämen, würde man das wohl an ganz anderen Dingen merken als an
einem gebrochenen Siegel.«
Alex schnaubte. »Vor allem, wenn man Gott ist.«
»Tja, dann … Dann kann es eigentlich nur so sein, dass in Wahrheit
das Siegel der Verschluss ist.«
»Genau mein Gedanke.«
»Aber das Rollsiegel ist doch nur so etwas wie der Prägestempel oder
Siegelring und nicht das Siegel selbst.«
»Hm.«
Eine gefühlte Ewigkeit herrschte Stille, dann fuhr draußen mit
Sirenengeheul der Krankenwagen wieder los. Sophie verdrängte die Frage, ob sie
den Nachbarn schon einmal gesehen hatte, der gerade mit Blaulicht weggebracht
werden musste, und stellte sich stattdessen vor, wie ein Engel einen Abdruck
des Siegels in weiches Wachs rollte.
»Vielleicht muss man die Vorlage haben, um das versiegelte Schloss
zu finden«, sagte Alex wie zu sich selbst.
»Oder die Magie liegt im Stempel und ist deshalb …« Die Überlegung
entglitt ihr bei Raphaels Anblick, der mit einem Mal durchscheinend wie ein
Traumgebilde im Zimmer stand.
»Komm! Kafziel rüstet zum Angriff.«
Schon lange, bevor Jean die ersten Lichter entdeckte,
hallte Rock durch die Dunkelheit. Das vielfache Echo verwandelte die Musik in einen
Klangbrei, der mit jedem Schritt lauter und durchdringender wurde. Um sein
Opfer zu bekommen, hatte Kafziel Sylvaine nichts erspart. Er hatte sie durch
Gänge geführt, die so eng waren, dass Jean seitwärts hatte gehen müssen, oder
so niedrig, dass sie nur auf allen vieren vorangekommen waren. Jean hatte
Markierungen gemacht und die Strecken dazwischen grob geschätzt. Obwohl es ihm
länger erschienen war, konnten sie alles in allem kaum mehr als zwei Kilometer
zurückgelegt haben – ein
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